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    Der Visionär 
     
     
    
     
     
    
      
     
    Text: 
    
    
    
    Stefan Nicola   Bild: Alcatel One Touch Easy 
     
    
      
     
    
    Mit meinem Freund 
    Igor hat alles begonnen. Es war 1996, da kaufte sich Igor ein Handy. Er war 
    der erste in unserer Schule, einer biederen Provinzinstitution im Badischen, 
    die gerade ihr 100-jähriges Bestehen feierte. Von uns wurde Igor damals müde 
    belächelt. Wer brauche schon ein Handy, man sei ja bisher auch immer 
    wunderbar erreichbar gewesen, und Igor brauche es schon gar nicht, er sei ja 
    kein Vertreter auf Reisen.  
     
    Als unser Freund nach ein paar Wochen immer noch der alleinige Handybesitzer 
    der Schule war und er zu allem Überfluss das Gerät aus undurchschaubaren 
    Gründen immer öfter ausgeschaltet ließ (heute weiß ich es,
    oder glaube es zu 
    wissen: es war wohl das Schamgefühl des Exoten), 
    schien sich unser Verdacht zu bestätigen: Das Handy würde für immer ein Luxusartikel bleiben.
    Es war verdammt, 
    um von wichtigtuerischen Top-Managern, Aufmerksamkeitsjunkies und Igor 
    – 
    denn er passte in keine dieser Schubladen 
    – gekauft zu werden. Wir 
    spielten Basketball auf dem Schulhof, feierten unsere ersten wilden Partys 
     
    und fielen uns in die Arme, als Oliver 
    Bierhoff uns zum Europameistertitel schoss. Die Welt war irgendwie noch in 
    Ordnung. 
     
    „Wartet’s mal ab“, sagte Igor dann lächelnd und irgendwie wissend, „Handys 
    setzen sich durch, glaubt's mir. Ihr werdet alle noch 
    eins kaufen.“ 
     
    Waren wir jung und naiv? Waren wir mit 16 schon bieder verankerte 
    Bildungsbürger, die jeden Fortschritt als Schnickschnack und 
    Teufelszeug sahen? 
    Wollten wir nicht sehen, was Igor längst erkannt hatte? Heute weiß ich es. 
    Igor war kein Exot. Er war ein Visionär. 
     
    Plötzlich kam Bewegung in die Sache. Erst langsam, dann immer schneller. Was 
    anfangs noch nach einem vereinzelten Mannschaftswechsel ins Handylager 
    aussah, wurde schnell zur Massenflucht. Bald hatten weit über die Hälfte der 
    Schülerinnen und Schüler unserer Klasse Handys.
    Und wir, die 
    Zeitgeistverweigerer, wurden zu Exoten. „Jetzt schaff dir halt auch eines 
    an“, sagte Igor damals. 
     
    Auch ich brach irgendwann weg. Kann man sich heutzutage als Jugendlicher 
    noch an sein erstes Handy erinnern? Oder ist das Handy zu sehr Normalität 
    geworden, dass es kaum noch als einschneidendes Erlebnis gilt? (Ich kann 
    mich auch nicht an mein erstes Paar Fußballschuhe erinnern, mein Vater 
    hingegen schon).  
     
    Ich weiß es jedenfalls noch genau: mein erstes Handy war
    ein „Alcatel One 
    Touch Easy". Ein mitleidiger Freund hatte es mir 
    geschenkt, zu dem Zeitpunkt hatte er schon ein deutlich kleineres und 
    leichteres Gerät in der Tasche. Besagtes Telefon, Nostalgiker erinnern sich 
    vielleicht, war quietscheentchengelb, nur unwesentlich kleiner als ein Gameboy.
    Und es hörte sich auch so ähnlich an. 
    Das Gerät war so laut, dass sich die Leute bei 
    jedem Tastendruck genervt zu mir umdrehten.  
     
    Seine Antenne, die man an ihrem kleinen schwarzen Knauf aus der Versenkung 
    ziehen konnte, um den „Empfang“ zu verbessern, ließ ich verschämt unberührt. 
    Aus der ausgebeulten Brusttasche meiner Jeansjacke schaute der 
    Antennenstumpf dennoch heraus. Schnell war ich als Handy-Nachzügler entlarvt. 
     
    Natürlich hatte ich lediglich eine Prepaid-Karte im Gerät, an 
    einen festen Vertrag war nicht zu denken. Ich will es ja zugeben, die 
    Handy-Szene, sie erschien mir immer noch viel zu dubios. „Die wollen mir 
    doch mit irgendwelchen faulen Tricks nur das Geld aus der Tasche ziehen“, 
    dachte ich. Die weitere Entwicklung des Handys ist bekannt.
    Heute ist Igor Marketing-Student; er macht bald seinen Abschluss. Ich würde 
    ihn sofort einstellen. In Deutschland gibt es nämlich kein Überangebot an 
    Visionären.   | 
    
       
 
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    51 
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    Serie: Schönheiten des Alltags 
     
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