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    Amputierte Klassiker 
     
    
     
    
    
     
    Text:
    
    
    Jons Marek Schiemann 
     Bild: 
    Photocase.de 
    
    
     
    
    In 
    dem Bestreben, 
    Kindern den Genuss der hohen Kultur nahe zu bringen, werden Klassiker der 
    Literatur oft umgeschrieben und gekürzt. Alles, damit Kinder die Literatur 
    kennen und schätzen lernen. Aber verstümmelte Texte lassen eher einen 
    gegenteiligen Effekt erwarten. Anstatt Kindern mit altersgerechten und für 
    sie interessanten Themen an das Lesen heranzuführen, werden sie  mit 
    zur Minderwertigkeit herabgearbeiteten Texten an 
    der Nase herumgeführt. 
     
    Eine inhaltliche Zusammenfassung eines Klassikers für Kinder könnte dann 
    ungefähr so lauten: Junge liebt Mädchen. Familien der beiden mögen sich 
    nicht und wollen dementsprechend nicht, dass sich die beiden treffen. Am Ende 
    können sich die beiden Liebenden schließlich umarmen. 
     
    Kurz und prägnant. So können die lieben Kleinen, auch ohne den störenden 
    Stil von Shakespeare, „Romeo und Julia“ verstehen. Natürlich ist die 
    Hochzeitsnachtszene gestrichen. Was soll denn dieses Vogelsingen? Die Andeutung, dass die beiden miteinander geschlafen haben, muss natürlich 
    entfallen. Ebenso dürfen sie selbstverständlich nicht sterben. Und die Gruft ist viel 
    zu gruselig. Ein Ende zum Beispiel in den bayerischen 
    Wäldern mit Lederhosen und glücklichen lila Kühen ist da viel angebrachter. 
     
    Ebenso fallen die Kannibalenszenen in „Robinson Crusoe“ dem Rotstift zum 
    Opfer. Und Gulliver löscht den brennenden Palast der Zwerge in Swifts Roman 
    mit Spucke (anstatt wie im Original mit seinem Urin). 
     
    Allerdings wird nicht nur gekürzt, sondern auch umgeschrieben. Das dabei der 
    ursprüngliche Stil und somit ein unverwechselbares Markenzeichen des Autors 
    und Bestandteil seiner Brillanz ausgemerzt wird, wird billigend in Kauf 
    genommen. Ein Beispiel: 
    
     
     
    
    „Tom!“ Keine Antwort.  
    
    „Tom!!“ Keine Antwort. “Was ist bloß 
    wieder los mit dem Jungen? Hörst du nicht? 
    Tom!“ Die alte Dame schob ihre 
    Brille tiefer und sah über sie hinweg, rundum im Zimmer. 
    Dann rückte sie die Gläser wieder hoch und sah 
    drunter durch. Wegen eines so kleinen Dinges, wegen so eines Jungen sah sie 
    selten, ja eigentlich nie mitten durch, denn es war ihr bestes Paar, ihr 
    Sonntagspaar, der Stolz ihres Herzens.“ 
     
    So der Anfang von „Tom Sawyers Abenteuer“ von Mark Twain in der 
    Erwachsenenfassung, übersetzt von Ullrich Steindorff. Und nun die 
    Kinderfassung in der Bearbeitung (steht wirklich so im Einband) von Brigitte 
    Helmstaedt: 
     
    „Tom!“ Niemand antwortete.  
    
    „Tom!“ Wieder keine Antwort. “Wo der 
    Bengel nur steckt? He, Tom!“ Die alte Dame rückte ihre Brille auf die 
    Nasenspitze und blickte darüber hinweg im Zimmer umher. Dann schob sie das 
    Gestell vor die Stirn und spähte darunter hervor. Durch die Gläser selbst 
    pflegte sie so gut wie niemals zu blicken, denn dieses Prachtstück von 
    Brille war ihr mehr der Ausdruck eines gehobenen Lebensstils als eine Hilfe 
    für die Augen – ein Paar Herdplattenringe würden ihr ebensoviel oder ebenso 
    wenig genützt haben. 
     
    Deutlich wird die Vereinfachung der Sprache auf ein unteres Niveau („Junge“ 
    zu „Bengel“) und eine Unterstreichung der Handlungen (die Handhabung der 
    Brille). Und: die Ironie wird entschärft. Gerade die Ironie ist aber ein 
    Qualitätskriterium von Twain und eines seiner größten Talente. Literatur als 
    fein komponiertes Abendmahl wird eingedampft zum farblosen
    Fastfood-Brei. 
     
    Kinder sollen die E-Kultur kennen lernen,
    wobei unter diesem 
    Ansatz wohl weniger die „Ernste Kultur“, sondern seit dem Entstehen des 
    Bildungsbürgertums die „Elitäre Kultur“ verstanden wird. So schrieb Wolfgang 
    Kayser 1948 in seinen Buch „Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in 
    die Literaturwissenschaft“: 
     
    „Das besondere Vermögen solcher literarischen Sprache [im Gegensatz zu 
    anderen schriftlich fixierten Sprachen wie die der Juristen, 
    Anm. J.M.S.], eine 
    Gegenständlichkeit eigener Art hervorzurufen, und der Gefügecharakter der 
    Sprache, durch den alles in dem Werk Hervorgerufene zu einer Einheit wird. 
    (...) So dürfen wir also sagen, dass die schöne Literatur der eigentliche 
    Gegenstand der Literaturwissenschaft ist und dass dieser Gegenstand von 
    hinreichender Eigenart gegenüber allen anderen ist“ (zitiert nach der 14. 
    Auflage [!] 1969). 
     
    In Berufung auf so einen Ansatz der schönen Literatur im Gegensatz zu der 
    ordinären Schundliteratur werden die Texte verhunzt und auf 
    niedriges Niveau  gebracht, um den kleinen unbedarften dummen Rackern das Hohe nahe 
    zu bringen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. 
     
    Das es so nicht geht und  auch nicht ging, erkannte man schon. Deshalb gab 
    es auch Comicfassungen von Romanen, weil diese von Kinder eher 
    gelesen werden, so nahm man an. „Der Kurier des Zaren“, „David Balfour“, 
    Moby Dick“ und „Die Schatzinsel“ wurden aber nicht unter der 
    Bezeichnung 
    „Comics“ verkauft, weil sie das ja wieder in die „Schundecke“ drücken 
    würde, sondern diese Bearbeitungen wurden als „Illustrierte Klassiker“ 
    angeboten. Ein anderer Name für das gleiche Kind. 
     
    Ein von Pädagogen, Politikern, Wissenschaftlern und Eltern hoch gepriesenes 
    Werk der Weltliteratur, welches für Kinder als das Angemessenste 
    erscheint, strotzt übrigens vor Mord, Totschlag, Intrigen, Nekrophilie, 
    Kannibalismus,  Diebstahl, Pessimismus 
    und diverser anderer Aspekte. 
    Sie glauben es nicht? Lesen Sie doch noch einmal Grimms Märchen.   | 
    
    AUSGABE 41 
    DIE 
    GEGENWART FÜR KINDER 
     
     
      
     
    
    STARTSEITE 
     
    
    EDITORIAL VON BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
    INTERVIEW MIT JUTTA LIMBACH 
    DIE SESAMSTRASSE 
    ZIGEUNER 
    IM BAHNWAGGON  
    FÜHRERSCHEIN MIT FÜNF? 
    DIE WELT IST KEIN SPIELZEUG 
    WILDE KERLE UND WUNSCHFEEN 
    SEHR FRÜH ÜBT SICH 
    TAGESSCHAU KINDERLEICHT 
    AMPUTIERTE KLASSIKER 
    
    
    JUGENDMEDIENSCHUTZ 
    
    OHRENSCHMAUS IM UNTERGRUND 
    
    ES WAR EINMAL, ... 
    AMERIKA HAT GEWÄHLT 
    IN 
    EIGENER SACHE: RÜCKBLICK 2003/04 
    
     
    
    ALLE AUSGABEN IM ARCHIV 
    DIE GEGENWART IN STICHWORTEN 
    ÜBER DAS MAGAZIN 
    IMPRESSUM 
     
    
    
      
    
    
     
    
    
    
    
    
    
     
    
    
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