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    Der Vertraute 
    
     
    
     
    
    
     
    Text: 
    
    
    Stefan Nicola    Bild: 
    Photocase.de 
    
    
    
     
    
    Das Dorf Talle in 
    Niedersachsen ist stolz auf seine prominenten Bürger. „Blaues Blut“, das 
    schreiben die Verantwortlichen der ortseigenen 
     Internetseite, 
    hatte man einst in den eigenen Reihen. Prinzessin Gundula zu Lippe, so ist 
    zu lesen, verbrachte auf einem Bauernhof in Talle einen Großteil ihres 
    Lebens.  
     
    Doch Gundula ist längst passé, denn Talle im Kalletal ist seit 1998 
    „Kanzlerdorf“. Hier hat der junge 
     Gerhard 
    Schröder 
    seine Jugend verbracht, eine Zeit, die nicht immer einfach war. Seinen 
    Vater, der im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront fiel, 
    hat er nie gekannt. Mutter Erika hat als Putzhilfe gearbeitet, um die 
    Familie durchzubringen. Als die Schröders von Mossenberg nach Bexten und 
    dann nach Talle zogen, gehörten sie zur sozialen Unterschicht. 
     
    „Er hätte genauso gut Gangster werden können oder Profi-Fußballer“, sagte 
    Biografie-Forscher Harry Friebel mal dem Stern. Doch Schröder hat sich 
    durchgebissen. 
     
    Er habe als Kind gelitten, verriet der Kanzler gar vor einigen Jahren, weil 
    seine Altersgenossen nicht mit ihm spielen wollten. Das änderte sich erst, 
    als Schröder in Talle gegen das runde Leder zu treten begann. 
     
    „Er ist uns schon in der Jugend aufgefallen“, sagt der 68-jährige Herbert 
    Batzer. Der waschechte Taller war damals 2. Vorsitzsender des 
     TuS 
    Talle, 
    dem ortsansässigen Fußballverein. „Er war etwas schlaksig, aber sehr 
    schnell, torgefährlich und hatte ein gutes Auge für den Mitspieler“, 
    erinnert sich Batzer. „Mensch, haben wir gedacht, hoffentlich wird der bald 
    18, dass er in der ersten Mannschaft spielen kann.“ 
     
    Gerhard war Stürmer, seine Kampfkraft brachte ihm bald den Spitznamen 
    „Acker“ ein. Schröder wurde zum Goalgetter, und schoss und köpfte den TuS 
    bis in die Bezirksliga. „Das waren die Glanzjahre für unseren kleinen 
    Verein“, sagt Batzer. Man habe ja, erklärt der 68-Jährige stolz, „bis auf 
    einen Torwart aus Bad Salzufflen“, nur mit Einheimischen gespielt. 
     
    Batzer ist Schröder-Fan, das merkt man. Wenn er über den 61-jährigen 
    Bundeskanzler spricht, sagt er „der Gerd.“ Batzer bewundert den Ehrgeiz, 
    den unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg, den Schröder schon damals an 
    den Tag legte. Nur raus aus der Armut, es allen zeigen, so sei er gewesen, 
    der Gerd.  
     
    Er hat den weiteren Lebensweg Schröders beobachtet. 
    Wie er neben der Lehre auf der Abendschule mittlere Reife und Abitur 
    nachmachte. Wie er bald nach Göttingen ging, um Jura zu studieren. Dort kam 
    es auch zum ersten Kontakt mit der Politik: Schröder trat den 
    Jungsozialisten bei und wurde bald deren Bundesvorsitzender. 1980 zog er für 
    die SPD in den Bundestag. Seinen ersten großen Erfolg feierte er ein 
    Jahrzehnt später, als eine Koalition aus SPD und Grünen in Niedersachsen an 
    die Macht kommt. Schröder wird Ministerpräsident.  
     
    1998 kickte das SPD-Triumvirat Schröder-Lafontaine-Scharping die CDU und 
    Kanzlerdenkmal Helmut Kohl nach 16 Jahren vom bundespolitischen Thron. 
    Schröder ist Deutschlands siebter Bundeskanzler und regiert in einer 
    Koalition mit den Grünen. Ganz Talle jubelt. Eine neue Generation, die der 
    68er, ergriff die Macht. Auch visuell änderte sich einiges im Kanzleramt: 
    Schröder zog ein als Medienstar -- er rauchte Cohiba-Zigarren, er trug 
    Designer-Anzüge, er traf sich mit Journalisten auf ein Glas Rotwein in den 
    Cafés am Berliner Gendarmenmarkt. Kaum eine Kameralinse, kaum eine 
    Fernsehsendung, die der medienverliebte Schröder ausließ. 
     
    Anfangs herrschte in den eigenen Reihen große Euphorie. Des Kanzlers 
    erklärtes Ziel war die Senkung der Arbeitslosigkeit. Wenn seine Regierung 
    dass nicht schaffe, posaunte der Kanzler damals, dann habe man „es nicht 
    verdient, wiedergewählt zu werden.“ Den Satz sollte er noch bereuen. Denn 
    als ihn 2002 Edmund Stoiber herausforderte, ist die Arbeitslosigkeit auf 
    unverändert hohem Niveau. Doch Schröder blieb dank medienwirksamem 
    Krisenmanagement in der Jahrhundertflut und einer standhaften 
    Friedenspolitik im Amt. 
     
    Die zweite Chance nützt Schröder zu längst fälligen Reformen. Agenda 2010 
    und Hartz IV sollten helfen, doch der Erfolg blieb aus: Immer mehr 
    Deutsche verloren Job und Perspektive, und im Frühjahr 2005 kletterte die 
    Arbeitslosenzahl über die auch medial schmerzhafte 5-Millionen-Marke. Ein 
    Bundesland nach dem anderen fiel in die Hände der Opposition, und als die 
    CDU auch in Nordrhein Westfalen zur stärksten Partei wurde, zog Schröder 
    überraschend die Reißleine. Er wolle Neuwahlen herbeiführen, sagte er am 
    Abend des 22. Mai. Die Kollegen der Partei waren schockiert. „Danke Kanzler“ 
    titelte BILD hämisch, ein politischer Selbstmord, analysierten viele. Nur 
    ein Wunder könne Schröder jetzt noch retten, sagten die Demoskopen. 
     
    Des Kanzlers Kritiker werfen ihm gescheiterten politischen Pointillismus 
    vor: Jede Menge Entscheidungen hat er getroffen, im Endeffekt kam aber kein 
    harmonisches Gesamtbild heraus. Viele seiner innen- und außenpolitischen 
    Entscheidungen konnte der Medienkanzler nur nach heftigen Machtkämpfen 
    innerhalb seiner Koalition durchsetzen. Der linke Flügel der SPD störte sich 
    am Schulterschluss mit den Konzernen und an der Beschneidung des 
    Sozialstaates. Der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo, ein 
    internationaler Krieg, noch dazu einer, dem anfangs das UN-Mandat fehlte, 
    gefiel den Grünen gar nicht. Doch schließlich griffen Tornados der Luftwaffe 
    serbische Radarstellungen an. Schröder, so sagen viele, hat mit dem 
    Bundeswehreinsatz im Kosovo der Bundesrepublik die internationale Mündigkeit 
    zurückgegeben. Heute sind deutsche Soldaten in Afghanistan und im Balkan im 
    Einsatz. Doch die Machtkämpfe gingen an der Partei nicht spurlos vorbei. 
    Seit dem Regierungsantritt Schröders hat die SPD rund 175 000 Mitglieder 
    verloren. 
     
    Schröders Außenpolitik ist beliebt. Zusammen mit seinem politischen 
    Busenfreund Jacques Chirac protestierte der Kanzler vehement gegen den 
    Irak-Krieg der USA, und traf damit den anti-amerikanischen Nerv vieler 
    Deutschen. Die arrogante Supermacht so richtig ärgern, das wollte auch der 
    deutsche Michel, Krieg hin, Frieden her. Dass das transatlantische Bündnis, 
    unter Schröders Vorgängern gereift und gefestigt, aufs heftigste leiden musste
    – nun ja. 
     
    Inzwischen ist Schröder wieder rangekommen. Das lag an den Fehltritten der 
    Sportskameraden Stoiber und Schönbohm, das liegt an der medialen Schwäche 
    der 
    Kanzlerkandidatin. 
    Es liegt aber auch an Schröder selbst, der beim Volk noch immer erstaunlich 
    gut ankommt, trotz immer noch 4,7 Millionen Arbeitslosen und trüber 
    Konjunkturzahlen. In Talle wird man seine SPD wählen, komme was wolle. 
    Herbert Batzer trifft den „Gerd“ noch ab und zu. Zum „Sechzigsten“ war er 
    beim Kanzler in Hannover eingeladen, im März diesen Jahres tuckerten Batzer 
    und zwei andere ehemalige Fußballkameraden ins nah gelegene Blomberg, denn 
    dort sollte der Kanzler mit Jacques Chirac zusammentreffen.  
     
    „Wir kleinen Lichter aus Talle haben uns natürlich in eine Ecke gestellt“, 
    erzählt Batzer. Dort erblickte sie der Kanzler. „Er ist sofort zu uns 
    gekommen, hat uns begrüßt und gefragt was wir trinken wollen. Dann hat er 
    uns sechs Bier gebracht“, erinnert sich der Rentner. „Der hat nie vergessen 
    wo er her kam, das ist ein ehrlicher Mensch.“ 
     
    Batzer hält einen Moment inne, und dann sagt er, ein wenig Trotz in der 
    Stimme: „Es ist gerade eine schwierige Zeit in Deutschland. Aber das Geeiere 
    wird wohl weiter gehen. Die Angela Merkel, die kann’s doch auch nicht 
    besser.“  
     
     
    
    
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    AUSGABE 45 
    DER 
    EHRLICHE WAHLKAMPF 
     
     
      
     
    
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    EDITORIAL VON BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
    DIE VERWANDLUNG 
    DER 
    VERTRAUTE 
    
    "ICH 
    TIPPE AUF EINE GROSSE KOALITION" 
    REFORMPOLITIK OHNE WÄHLERAUFTRAG 
    DIE MARKE JOSCHKA 
    RENAISSANCE DER 
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    EINE FRAGE DES 
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