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    Wie europäisch ist das deutsche Kino? 
    
    
     
     
    Text: 
    
    
    
    Nikolai Wojtko   Bild: 
    Photocase.com 
     
    
    
    Die Berlinale ist gerade zu Ende 
    gegangen. In Erinnerung bleiben vor allem die Schlagworte: Sie ist 
    politischer geworden und die deutschen Filme waren noch nie so stark 
    vertreten wie in diesem Jahr.  
     
    Zwei Feststellungen, die scheinbar aufeinander bezogen sind. Allerdings 
    sollte man das Eigenverständnis des Festivals von dem der jeweiligen 
    Filmemacher unterscheiden. Die Festivalleitung und die von ihr eingesetzte 
    Jury haben sich bemüht, ihrem Anspruch eines politischen Filmfestivals 
    gerecht zu werden. Damit schafft es die Berlinale unter der Leitung von 
    Dieter Kosslick nun endgültig, ihr eigenes Profil unter den europäischen 
    Filmwettbewerben zu schärfen. 
     
    So verwundert es auch nicht, dass die Jury zwei der politischen Filme 
    würdigte: Grbavica von Jasmila Žbanić (Goldener Bär) und The Road to 
    Guantánamo von Michael Winterbottom (Silberner Bär für die beste Regie). 
    Obwohl in diesem Jahr starke amerikanische Filme im Wettbewerb zu sehen 
    waren, wurde keiner von ihnen geehrt. In diesem Jahr wird nur der Blick auf 
    die USA gewürdigt. 
     
    Ausgezeichnet wurden europäische Filme, die verblüffender Weise alle um die 
    Problembereiche Folter – Vergewaltigung und Erosion des persönliche 
    Sozialgefüges zentriert sind. 
     
    Gerade dieses Spannungsfeld lässt die Frage zu, inwieweit wir uns als 
    Europäer fühlen, sehen, imaginieren. Vielleicht war hier der Vermerk von 
    Armin Müller-Stahl, in diesem Jahr Mitglied der Jury des Wettbewerbs zu 
    Beginn des Wettbewerbs im Bezug auf die Deutschen Filme Richtung weisend. In 
    Deutschland  – so Stahl  
    – stecken viele Geschichten, also auch viele 
    Filmgeschichten. Wir Deutschen sollten uns nur trauen, diese auch zu 
    erzählen. Unsere Geschichten, unverstellt. Nur so, können wir auch in 
    anderen Ländern verstanden werden. 
     
    Grbavica spielt im heutigen Sarajevo und zeigt die heute noch eitrigen 
    Wunden des Krieges auf dem Balkan. Es ist die Geschichte einer allein 
    erziehenden Mutter und ihrer Tochter, welche immer drängender nach ihrem 
    Vater fragt. Dabei spielt der Film auf den verschiedenen Ebenen mit den 
    tragischen Momenten, die einen Krieg auch lange nach seinem Ende im Leben 
    der Menschen lebendig halten. Ist am Anfang noch klar auszumachen, wer 
    Opfer, wer Täter ist, so verschwimmen die klaren Zuschreibungen in Zeiten 
    des Friedens. Wie viel Wahrheit kann man der Tochter über ihren Vater 
    zumuten, wie viel verschweigen?  
     
    The Road to Guantánamo erzählt die Geschichte 
    von vier Engländern, die nach Pakistan reisen um dort eine Hochzeit zu 
    feiern. Aus Abenteuerlust fahren sie zwischendurch ins benachbarte 
    Afghanistan. Dort werden sie von der Nordallianz festgenommen, den 
    Amerikanern überstellt und schließlich werden die drei Überlebenden nach 
    Guantánamo verschleppt. Der Film zeigt anhand der Geschichte dieser über 
    Jahre gefolterten Männer, die Ohnmacht der USA, die nach dem 11. September 
    immer noch in einem Ausnahmezustand leben, als Spiegel ihrer eigenen 
    Brutalität. 
     
    Ganz anders die deutschen Filme im Wettbewerb: sie verstehen sich unisono 
    als aufwühlend, als Filme, die harte Themen anpacken, sich Zeit lassen und 
    Menschen darstellen wollen. Weder Sandra Hüller (silberner Bär als beste 
    Darstellerin in Requiem), noch Moritz Bleibtreu (silberner Bär als bester 
    Darsteller in Elementarteilchen), interpretieren ihre Rollen anders als eine 
    Person mit ihren spezifischen Problemen. Auch Jürgen Vogel (silberner Bär 
    für seine künstlerische Leistung in Der freie Wille) versteht seine Rolle 
    als Versuch des Authentischen.   
     
    Das Land oder die Stadt als öder Ort füllt somit die Leerstelle des 
    zerrissenen Innenlebens der Darsteller und wird deren filmischer Ausdruck. 
    Hierbei fungiert Natur lediglich als Darstellung eines trügerischen Idylls, 
    dem schon der modrige Geruch des Verfalls anhaftet. Es wäre zu viel gesagt, 
    wenn man hierhin den Verfall der nationalen Bindung erkennen wollte. Jedoch 
    liegt gerade in der Rückbesinnung auf den spezifischen Ort der Handlung eine 
    Symbolik, die das Regionale transzendiert. Die Selbstfindung der Person 
    zumeist in ihrer Auflösung gezeigt, wird somit zur Metapher einer 
    Veränderung, die noch darüber wegtäuschen möchte, dass ihre Utopie der 
    Heimat genau die Wunde schlägt, die sie mit ihren universellen 
    Heilsversprechen beheben möchte. Diesen Widerspruch zu thematisieren, darin 
    liegt verblüffender Weise die Verbindungslinie der deutschen
    Wettbewerbesfilme.  
     
    Der einzige deutsche Beitrag im Wettbewerb der keine Auszeichnung erringen 
    konnte, liest ich wie das Programm von Armin Müller-Stahl: eine Landschaft 
    wird zum Spiegel der Protagonisten, die Umgebung prägt die Erzählung. Gerade 
    die Haftung an den Ort, der als klein und beschaulich beschrieben wird, 
    lässt ihr inneres Double entstehen: die „Sehnsucht“. Vielleicht kam dieser 
    ausschließlich mit Laiendarstellern besetzte Film von Valeska Grisebach 
    dieser Wahrheit zu nahe, als das er mit einem Bären ausgezeichnet werden 
    konnte.  
     
    Wollte der deutsche Film noch vor wenigen Jahren als Komödie lediglich in 
    seiner Banalität ernst genommen werden und darüber hinaus keine Aussagen 
    treffen, so zeigt sein Insistieren auf das Kleine, die Person, den Ort die 
    Vorbereitung auf etwas Anderes. Die Varianten des neurotischen und 
    pathologischen, die nun ihre Ehrungen fanden, weisen auf eine Entwicklung, 
    deren Richtung nicht klar abzusehen ist. Anscheinend beschäftigt sich der 
    deutsche Film insofern ernsthaft mit Europa, als er es lediglich an seinen 
    Rändern und niemals frontal thematisiert. Damit werden die von Armin 
    Müller-Stahl eingeforderten deutschen Geschichten aus ihrem Erzählen heraus 
    zu europäischen. 
     
    Die Freiheit eines politisch wichtigen Festivals wird vom deutschen Film 
    langsam ausgelotet, wir dürfen auf die filmischen Erzählungen der nächsten 
    Jahre gespannt sein.  
     
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    AUSGABE 47 
    WER IST EUROPA? 
     
     
      
     
    
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    EDITORIAL VON BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
    LOBEND ERWÄHNT: NEUE 
    GEGENWART 
    BAUSTELLENBESUCH ZU BABEL 
    ES WERDE EUROPA 
    NEGATIV IST POSITIV 
    WIE 
    EUROPÄISCH IST DAS DEUTSCHE KINO? 
    
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