Qualität, (un-)bekannte Größe


Text:
Marianne Ravenstein     Bild: Photocase.com

Was bedeutet eigentlich Programmqualität und wie kann sie bewertet werden? Diese grundsätzliche Frage stellen sich Wissenschaftler und Fernsehkritiker immer wieder neu. Zweifellos kann unterschieden werden zwischen der für die Medienpolitik relevanten Qualität des Gesamtprogramms öffentlich-rechtlicher und kommerzieller Herkunft einerseits und der Sendungsqualität andererseits, deren Adressaten Programmmacher, Fernsehkritiker, Publikum und die interne Programmplanung sind.

AUSGABE 49
GUTES FERNSE
HEN –
SCHLECHTES FERNSEHEN





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QUALITÄT, (UN-)BEKANNTE GRÖSSE

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Das Adolf-Grimme-Institut und der unter seiner Ägide vergebene Preis ist eine gewichtige Institution in Sachen Fernsehqualität. So schwer es auch ist, Programmqualität zu definieren, in der Nominierungskommission Information & Kultur haben wir uns auch dieses Jahr wieder bemüht, herausragende Leistungen im Fernsehen zu entdecken, zu prüfen, zu diskutieren und zu nominieren.

Wer den Geist Grimmes atmen und Programmqualität entdecken möchte, kommt nicht umhin, als Mitglied der Nominierungs-kommission „Information & Kultur“ an drei Wochen nach Marl zu reisen, um Pretiosen aus dem stetig größer werdenden TV-Angebot zu finden. Auch beim diesjährigen Sichtungsmarathon zeigte sich wieder ein breites Spektrum, in welchen Formaten und Formen Qualität zur Geltung kommen kann.

Knapp 400 Sendungen wollen erst einmal gesichtet werden. Man braucht als Mitglied der Nominierungskommission drei Wochen Zeit dafür, genauer gesagt dreizehn Tage, und an jedem einzelnen Tag von ihnen 10 bis 12 Stunden, die man vor dem Fernseher verbringt.




Dr. Marianne Ravenstein

Geboren 1957, ist seit Oktober 2006 Prorektorin für Lehre, Studienreform und studentische Angelegenheiten der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit einigen Jahren engagiert sie sich als Mitglied in verschiedenen Nominierungskommissionen des Adolf-Grimme-Preises. Dr. Marianne Ravenstein hat an den Universitäten München und Münster Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft, Soziologie und Geschichte studiert und war nach ihrer Promotion von 1986 bis 1988 Wissenschaftliche Angestellte im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Einführung des Kabelfernsehens im Auftrag des Landes NRW. Seit 1989 lehrt sie am Institut für Kommunikationswissenschaft der Uni-versität Münster, seit August 2001 ist sie Akademische Direktorin. Link

Die Zeit ist gut investiert, denn nur so kann man einen kompletten Überblick über das Fernsehjahr erhalten. Dabei ist man immer auf der Suche nach dem Besonderen, dem Herausragenden, dem Denkwürdigen und dem Bemerkenswerten.

Im Fernsehjahr 2005 überzeugten insbesondere investigative, journalistisch ausgezeichnet aufbereitete Reportagen und Dokumentationen. Allein fünf Nominierungen heimst das WDR-Format „
die story“ ein, indem politisch und gesellschaftlich brisante Themen aufgegriffen werden. Wir sahen gut recherchierte Beiträge zu politisch aktuellen Themen wie über die Hintergründe über die Ermordung einer jungen türkischen Frau auf offener Straße („Sie hat sich benommen wie eine Deutsche“) oder den Film „Der Griff nach dem Öl“, wobei die Rohstoff-Strategie der USA thematisiert wurde. Die  Dokumentation „Tod in Teheran“ rekonstruiert grausige Details eines religiös motivierten Mordes und verfolgt Spuren des Verbrechens bis in das Machtzentrum des islamischen Gottesstaates. Eine inzwischen nicht mehr selbstverständliche Form von politischer Berichterstattung ist das Kennzeichen dieser WDR-Reihe. Gerade diese Sendungen zeichnen sich nicht nur durch ihre Programmqualität aus, sondern auch durch ihren Modellcharakter für das laufende Programm. Einhelliges Lob erhielt auch das TV-Porträt „Mister Tony Blair“ (ARD/NDR) als Beispiel dafür, wie ein Staatsmann auch mal von einer ganz anderen Seite dargestellt werden könne.

Was auffiel: Es kamen ungewöhnlich viele Themen aus der Abteilung Wirtschaft vor. Beispielhaft für das Finanzgebaren internationaler Finanzinvestoren ist die Dokumentation „
Und du bist raus“ (ARD/WDR). Besonders überzeugte auch „Allein gegen Strauß und die Millionen“ (ARD/NDR), da die Aufdeckung der CDU-Parteispendenaffäre durch einen unnachgiebigen Augsburger Staatsanwalt und ein kleines Team von Steuerfahndern zu Rücktritten prominenter Politiker und zum Prozess gegen den damaligen Staatssekretär Holger Pfahls führte.

Wir haben unzählige Dokumentationen gesichtet, die am Beispiel von Einzelschicksalen in die Kategorie „Betroffenheits-Dokumentationen“ gehören. Und sehr häufig haben wir kritisiert, wie voyeuristisch Menschen dargestellt werden. Dagegen dokumentiert der Film „Madeleine – Protokoll einer Genesung“ (ARD/RBB) von Thaddäus Zech über einen Zeitraum von fast vier Jahren sowohl unsentimental als auch einfühlsam die Hochs und Tiefs einer Genesung von Madeleine, deren Gesicht nach einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde. Der Film bleibt in nachhaltiger Erinnerung, da er ohne Voyeurismus und spekulatives Spiel mit dem Entsetzen auskommt.

Nicht leiten lassen haben wir uns von einem Themenbonus, also von der Bedeutung eines Problems und dem Verdienst der Reportage oder des Dokumentarfilms, darauf hingewiesen zu haben. Dabei standen in zahlreichen Dokumentationen immer wieder einheimische Politik und Zeitgeschichte zur Debatte. In bewährter Manier werden dabei oft Zeitzeugen vor die Kamera geholt, überzeugend zum Beispiel in „
Die Todeself“ (ARD/WDR). Besonders hervorzuheben sind auch „Die Frauen von Ravensbrück“ (MDR/RBB/SWR): Ein von Interviews, Film- und Bilddokumenten kompiliertes Portrait von Überlebenden aus fünfzehn Ländern über das Leben im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.

Der Grimme-Preis war immer und ist auf Diskurs, auf Dialog angelegt. Dieses Mal wurde auch ein eher ungewöhnlicher Diskurs geführt, dessen Ausgangspunkt gleichzeitig eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit verbuchen konnte. Im Resultat war unsere Diskussion eindeutig: Einen über den Berliner „Tagesspiegel“ publizierter Vorschlag,
Susanne Osthoff mit dem Adolf-Grimme-Preis auszuzeichnen, weil sie die Erwartungshaltung der Medien unterlaufen habe, lehnten wir einstimmig ab.

Geschichten über das Fernsehen im Fernsehen sind nicht zwangsläufig preisverdächtig. Die fünfteilige Doku-Soap „
Fernsehen verboten!“ (Arte) konnte überzeugen. Dies nicht nur, weil es mutig von Patrick Volson war, im französischen Städtchen Cachan Freiwillige zu finden, die sich einen Monat lang vom Fernseher trennten; sondern auch, weil die dokumentierten Selbsterfahrungen in Sachen TV-Konsum viel mehr als nur lapidare Erkenntnisse über den hohen Stellenwert der Flimmerkiste im Alltag vermittelten.

Dokumentationen und Reportagen: Oft findet der interessierte Fernsehzuschauer sie an den Rändern des Programms; zunehmend in Spartenprogrammen wie Arte, auch auf speziellen Sendeplätzen in Dritten Programmen und, immer wieder und beinahe schon als Regel,  zu später Stunde in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF. Dennoch konnte man auch im Fernsehjahr 2005 die positivsten Überraschungen mit hervorragenden Beispielen dokumentarischen Fernsehens finden.