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    Open Sourcing Yourself 
     
    
     
    
    
     
    Text:
    Mario Sixtus  Bild: Christof Wolff 
    
     
    
    
    Demnächst werden wir alle über 
    unser Leben im Internet ein Logbuch führen, glaubt Loïc Le Meur. Und das ist 
    auch gut so, findet er. 
     
    
    Loïc Le Meur hat die Zeit 
    erlebt, als Internet-Unternehmer den Status von Popstars hatten. Und er hat 
    sie überlebt. Er ist immer noch Internet-Unternehmer und vielleicht sogar 
    immer noch ein winzig wenig Popstar. Wir treffen uns während seiner 
    Deutschlandtournee. Fünfzehn Geschäftstermine in sechs Tagen hat der 
    Franzose sich vorgenommen. Gestern bei einem Medienkonzern in Gütersloh, 
    heute Vormittag bei einem Mobilfunkanbieter in Düsseldorf und in neunzig 
    Minuten wird er in einem Taxi nach Köln brausen, zu der New-Media-Tochter 
    eines privaten Fernsehsenders. Da reicht die Zeit gerade für eine 
    Unterhaltung beim Mittagessen. Le Meur bestellt Linguini und eine große 
    Flasche Mineralwasser. Er redet schnell. Er ist zwar nicht auf der Flucht, 
    aber er hat noch viel vor. Dieses Jahr. Heute. Jetzt. "Wenn wir im 
    Internet-Geschäft von 'langfristig' sprechen, meinen wir einen Zeitraum von 
    etwa sechs Monaten", sagt er. Das ist zwar ein alter Hut, aber wenn Le Meur 
    das sagt, klingt es auf einmal authentisch: Der Mann ist die personifizierte 
    Ungeduld. Und doch sieht er sich eher als Marathonläufer: "Ich war schon da, 
    als sich noch kein Mensch für das Netz interessierte, ich war da, als der 
    Riesenhype  entstand und ich war da, als die Börsenblase platzte", sagt er 
    und drückt dabei alle zehn Fingerkuppen auf die Tischplatte, als würde er 
    den Schlussakkord einer Orgelsonate spielen. "Ich war da, als niemand mehr 
    etwas vom Internet hören wollte und jetzt, wo es langsam wieder los geht, 
    bin ich einfach immer noch da." Dabei grinst er keck und dreht die 
    Handflächen nach oben, als wolle er zeigen, dass kein Trick dabei ist.  
     
    Vielleicht ist seine Deutschlandtour Klinkenputzen auf höchstem Niveau, 
    vielleicht ist es aber auch eine Mission. Es geht um Weblogs – oder kurz 
    Blogs – jene kleinen Online-Journale, die meist nur 
    von einer Person mit Inhalten gefüttert werden und die sich in den USA 
    geradezu viral übers Netz ausgebreitet haben. Mehrere Millionen Blogs soll 
    es im Mutterland des Webs mittlerweile geben. Teenager veröffentlichen darin 
    ihren Liebeskummer, Wissenschaftler ihre Thesen, Globetrotter schreiben 
    Reiseberichte und Journalisten freuen sich, einen Publikationskanal entdeckt 
    zu haben, auf den ihre Chefredaktion keinen Einfluss hat. Der Unterschied zu 
    den herkömmlichen Homepages: Eine im Hintergrund werkelnde Technik sorgt 
    dafür, dass die Nutzer sich nicht mit Programmiersprachen herumzuschlagen 
    brauchen. Das Verfassen eines neuen Eintrags in einem Weblog gestaltet sich 
    in etwa so schwierig, wie das Absenden einer Email. "Der deutsche Blog-Markt 
    ist noch in einem sehr frühen Stadium", weiß Le Meur. Schätzungen gehen 
    hierzulande von lediglich ein paar Tausend aktiver Weblogs aus. Daher muss 
    er auch Aufklärungsarbeit in den Chefetagen leisten. Bei rund der Hälfte der 
    bisherigen Treffen hatten seine Gesprächspartner noch nie von Weblogs 
    gehört. In den USA müssen Internet-Unternehmer immer auch ein wenig 
    Hellseher sein. In Europa hat man es diesbezüglich etwas leichter: Bisher 
    ist noch jeder Web-Trend über den Atlantik geschwappt – mit einigen Jahren 
    Verzögerung. 
     
    
     Loïc Le Meur gehört zu den Leuten, deren Alter unmöglich zu schätzen ist. Zu 
    sehr changiert er zwischen kumpelhaftem Langzeitstudent, erfahrenem 
    Geschäftsmann, Medienvisionär und Extremsportler. Le Meur ist 31. Er ist an 
    fünfzehn Unternehmen der Internet-Branche beteiligt, sitzt im Aufsichtrat 
    mehrerer börsennotierter Aktiengesellschaften und wurde vom 
    Weltwirtschaftsforum in den Kreis der "Global Leaders for Tomorrow" berufen. 
    "Diese Bezeichnung habe ich mir nicht ausgedacht", sagt er etwas verlegen. 
    Diesem exklusiven Club gehört neben Tony Blair, Bill Gates, Amazon-Chef Jeff 
    Bezos und Google-Gründer Larry Page auch U2-Sänger Bono an. Da ist er 
    wieder, der Popstar-Bezug.  
     
    "Als ich 1993/94 das Netz entdeckte und spürte, dass da etwas Großes vor 
    sich ging, erklärten mich die meisten meiner Freunde für verrückt", sagt Le 
    Meur. Aber zumindest ihn hat das Internet reich gemacht. Während eines 
    studentischen Praktikums bei Peugeot wies er 1996 einen der Manager auf die 
    Möglichkeiten des Netzes hin und schlug vor, doch direkt Autos übers Web zu 
    verkaufen. "Warum nicht, man kann es ja versuchen", war die Antwort, die Le 
    Meur geradezu nötigte, sein Studentendarlehen zur Unternehmensgründung zu 
    verwenden. Die nachfolgende Geschichte fällt dann eindeutig unter die 
    Vom-Mäuseschubser-zum-Millionär-Rubrik. Seine zunächst auf dem Uni-Campus 
    angesiedelte Studentenklitsche B2L mauserte sich schnell zu einer der 
    führenden Web-Agenturen der Grand Nation und bediente neben Peugeot, 20th 
    Century Fox und Chanel noch etliche andere Alpha-Marken, bis schließlich der 
    Werberiese BBDO auf die Firma aufmerksam wurde und Le Meur ein 
    Übernahmeangebot machte, das er offensichtlich nicht ablehnen konnte. Auch 
    sein zweites Start-Up, das Hosting-Unternehmen Rapidsite, benötigte nur eine 
    kurze Erfolgsgeschichte, bis ein Majorplayer vor der Tür stand und mit einem 
    Kaufvertrag wedelte. Diesmal war es die France Telekom, die 1999 Rapidsite 
    übernahm und in ihre Netzsparte Wanadoo integrierte. "Die Zeiten waren halt 
    so", sagt Le Meur und fast wirkt das so, als sei es ihm peinlich, über so 
    viel schnelle Erfolge zu reden. "Aber beide Unternehmen waren immerhin 
    profitabel." Schwingt da etwa eine Art Entschuldigung mit? "Natürlich hatte 
    ich auch Glück." Der letzte Satz erklärt vielleicht  am ehesten, was den 
    Mann antreibt: Sportlicher Ehrgeiz. Während des Hypes verkaufen? Das kann 
    jeder. Das ist einfach. Damit schmückt man sich nicht. Inzwischen sind die 
    Spielregeln verschärft worden und die Hürden liegen höher. Jetzt macht es 
    wirklich Spaß. Und wo bleiben eigentlich die Linguini? 
     
    Diesmal also Weblogs. Und diesmal reicht Frankreich nicht mehr als Spielfeld 
    aus. Kürzlich eröffnete sein Weblog-Service Ublog.com Büros in Spanien und 
    Deutschland. Demnächst sollen Großbritannien und skandinavische Länder 
    folgen. Doch das ist nur die Overtüre. Le Meurs Schritt in die Weltliga ist 
    die Fusion seiner Firma mit dem amerikanischen Unternehmen Six Apart, das 
    mit seiner erfolgreichen Blog-Software Movable Type und seinem Service 
    TypePad eindeutiger Marktführer ist. Zwar beschert Le Meur dieser 
    Zusammenschluss lediglich die Vizepräsidentschaft des gemeinsamen 
    Unternehmens, aber man sieht ihm die Freude über die kommende Spielfeldgröße 
    an: "Bisher hatte ich nur mit französischen Unternehmen zu tun. Jetzt steige 
    ich in eine globale Sache ein und es ist unglaublich, wie schnell sich alles 
    entwickelt."  
     
    Die Strategien der Blog-Anbieter unterscheiden sich kaum von denen aus 
    Zeiten des Dot-Com-Booms: Das Wichtigste ist der Marktanteil. Geld verdient 
    wird später. Hoffentlich. Der Einstieg in die Welt der Weblogs ist für 
    Nutzer daher erst einmal gratis. Irgendwann soll ein Teil von ihnen dann zur 
    kostenpflichtigen Premium-Variante des Dienstes wechseln. Erwartet man. Und 
    dann sind da natürlich auch Kooperationen, die, je nach Vertrag, dem 
    Unternehmen ein paar Millionen neue Kunden oder eine stattliche Summe 
    Lizenzeinnahmen bringen. "Es gibt Konzerne, die wollen einfach nicht mit 
    nationalen Anbietern sprechen. Die wünschen sich einen einzigen 
    Ansprechpartner weltweit", sagt Loïc Le Meur. Zum Beispiel? "Nokia", schießt 
    es aus ihm heraus, als hätte ich eine Zielscheibe hoch gehalten. Der 
    finnische Handyhersteller beabsichtige, in die nächste Generation seiner 
    Geräte eine direkte Schnittstelle zur Weblog-Software von Six Apart zu 
    integrieren. Bloggen würde dann zu einem mobilen Vorgang mutieren. Diese 
    Vorstellung hat wohl auch den japanischen Telekommunikationsmulti NTT 
    Communications überzeugt, weswegen man im fernen Nippon einen 
    Kooperationsvertrag miteinander schloss. Die Welle scheint zu rollen. Die 
    Linguini nicht. Die Küche brauche noch etwas, sagt der Kellner, tue ihm 
    leid. Loïc Le Meur sieht auf die Uhr. 
     
    Aber jetzt mal Klartext: Weblogs. Mehr oder weniger private Websites mit oft 
    persönlichen Inhalten oder auch einfach nur belanglosem Blabla. Diese 
    Dinger sollen die ganze Aufregung wert sein? Le Meur zündet sich eine 
    Marlboro Light an und beugt sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis 
    anvertrauen: "Denk an Email vor zehn Jahren", fordert er mich auf, "da 
    sagten viele Geschäftsleute: 'Wozu? Ich habe doch Fax'. Sie konnten die 
    Möglichkeiten des Neuen Mediums einfach nicht erfassen. Mit dem Bloggen ist 
    es heute genauso." Und hier rückt wieder die Deutschlandreise in den Fokus: 
    Ob Tipps für Hotels mit Funknetz, Restaurantempfehlungen oder sogar Hilfe 
    bei Geschäftsterminen: All das steuerten die deutschen Leser seines Blogs 
    bei. Irgendjemand kannte immer irgendjemanden, der irgendetwas konnte oder 
    wusste. "Es war ein Experiment", sagt Le Meur, "und es hat hundertprozentig 
    funktioniert. Es ist das genaue Gegenmodell zur alten Wirtschaft", sagt er 
    und nimmt wieder Fahrt auf, "früher wollten Geschäftsleute alles geheim 
    halten. Das Adressbuch war angeblich das Unternehmenskapital und ähnlichen 
    Quatsch hatten sie im Kopf." Noch schneller: "Es geht um eine Gegenbewegung 
    dazu: Offenheit, Transparenz, Klarheit. Es geht darum, die Open-Source-Idee 
    auf die Geschäftswelt auszudehnen. Bloggen ist 'Open Sourcing Yourself.'" Er 
    drückt seine Marlboro Light aus. In einer Woche wird er versuchen, das 
    Rauchen aufzugeben und seinen Körper mit Nikotinpflastern zupappen. Darüber 
    wird er in seinem Weblog berichten. Um dem inneren Druck noch einen äußeren 
    hinzuzufügen, wird er schreiben. Endlich kommen die Linguini. 
     
    "Das funktioniert natürlich auch anders herum", nimmt Le Meur den Faden 
    zwischen zwei Gabeln voller Teigwaren wieder auf. "Ich wusste vorher nicht 
    viel von Deutschland, aber ich habe deutsche Blogs gelesen. Und weil ich sie 
    täglich gelesen habe, weiß ich mittlerweile wahrscheinlich mehr darüber, was 
    in Deutschland passiert, als wenn ich zwanzig Zeitungen abonniert hätte." 
    Bitte noch mal einen Schritt zurück. Genau. Stichwort Transparenz 
    und so weiter. "Blogs sind ein fantastisches Geschäftswerkzeug", erhalte ich 
    als Auskunft. "Es ist eine vollkommen neue Art zu arbeiten. Selbst das 
    Netzwerken unterscheidet sich. Es ist alles viel schneller. Es findet da 
    gerade ein großer Paradigmenwechsel statt. Leute beginnen, Informationen 
    miteinander zu teilen. Durch das Teilen wird das Netzwerk größer. Du 
    erhältst mehr Information und mehr Reputation. Und Du erfährst von Leuten, 
    mit denen Du vielleicht gerne Geschäfte machen würdest, die Du aber nie 
    kennen gelernt hättest, wenn Du nicht teilen würdest." Und das alles durch 
    die niedlichen Webseitchen, für die man schon so putzige Begriffe wie "Micro 
    Content" oder "Nano Publishing" erfunden hat? "Genau!", sagt Loïc Le Meur 
    mit der Überzeugung, die er für seinen Job wohl braucht. 
     
    Tatsächlich haben Blogs in den USA bereits eine Art Bonsai-Boom ausgelöst. 
    Die ersten Journalisten schmeißen ihre Tagesjobs hin, weil sie durch 
    Anzeigenwerbung auf ihren persönlichen Weblogs auf einmal mehr verdienen. 
    Amateure entdecken ihr Schreibtalent durch reines Ausprobieren und 
    begeistern mitunter mehr Leser, als so manches, professionelle Web-Magazin 
    und die ersten Entrepreneure gründen bereits ganze Blog-Farmen – mit 
    bezahlten Schreibern. Letztens gab es sogar die ersten aggressiven 
    Abwerbungen von professionellen Bloggern. Fast ein wenig wie früher, nur 
    zwei, drei Nummern kleiner.  
     
    "Wenn die klassischen Medien diesen Trend nicht begreifen und nicht 
    aufnehmen, könnten Sie in Zukunft Probleme bekommen", sagt Le Meur und tupft 
    sich die Lippen ab. Der Teller ist noch halb voll, aber die Zeit ist um. Und 
    dann kommt der Satz, den Le Meur gerne zu Journalisten sagt: "Weblogs 
    könnten für die Newsbranche zu dem werden, was Napster für die 
    Musikindustrie war." Dabei grinst er breit, als hätte er gerade einen etwas 
    unanständigen Witz gemacht. Danke. Bitte. Wiedersehen. Loïc Le Meur rauscht 
    zum Taxistand. Die Tournee geht weiter. 
     
    "Ob Weblogs die Welt revolutionieren werden, weiß ich nicht, aber ich weiß, 
    dass die Welt schon mal unfreundlichere Revolutionäre hervorgebracht hat, 
    mit unsympathischeren Ideen", werde ich später in mein Weblog schreiben.   | 
    
    AUSGABE 40 
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