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    Nichts als Gespenster 
     
    
     
    
    
     
    Text: 
    
    
    Thomas Sommer   Bild: 
    Photocase.com 
    
    
    
     
    
    George 
    Turklebaum arbeitet schon seit 30 Jahren als Lektor in einem New Yorker 
    Unternehmen. Meistens trägt der 51-Jährige eine 
    Baseballkappe der New York Yankees, denn George ist Baseballfan. Bei seinen 
    Kollegen gilt er als äußerst gewissenhaft und 
    durchaus beliebt. So verwundert es auch nicht, dass Elliot Wachiaski, 
    Georges Chef, nur gute Worte für seinen langjährigen Mitarbeiter findet: 
    „George kommt immer als erster und geht als letzter“. 
    Kurzum, man könnte George als den perfekten Mitarbeiter und Kollegen 
    beschreiben. Wenn da nicht diese Kleinigkeit wäre: George liegt mit dem Kopf 
    auf einem Medizinbuch. Nein, er schläft nicht während der Arbeitszeit.  George ist tot. Eine 
    Herzattacke 
    –
    
    und keiner hat es bemerkt.  
     
    „Wir dachten, dass George einfach nur ganz genau arbeitet“, so einer der 
    vorsichtigen Erklärungsversuche seiner Ex-Kollegen. 
     
     
    Bis hierhin 
    ist die Geschichte von George Turklebaum zwar tragisch, aber nicht unbedingt spektakulär. 
    Wenn
    man erfährt, 
    dass George an einem Montag starb, sein Ableben aber erst fünf Tage später 
    von der Putzfrau bemerkt wurde, ändert sich das. Was für eine Story! Genau das dachten sich 
    auch die Reporter der im englischen Birmingham erscheinenden Sunday Mercury 
    und veröffentlichten die Geschichte des George Turklebaum unter der Rubrik „Crazy 
    Worlds“. Selbst die Londoner Times und die BBC sprangen  auf den Zug 
    auf, 
    schließlich passt diese Geschichte bestens in unsere Zeit. Haben 
    nicht fast alle schon einmal das Gefühl gehabt, zu 
    viel Zeit im Büro zu verbringen und dabei oftmals nicht mehr 
    zu sein als eine anonyme Arbeitsmaschine?  
     
    Doch die Geschichte von George 
    Turklebaum ist frei erfunden.  
     
    Sie gehört in die 
    Rubrik der „urbanen Legenden“, die in Form kleiner 
    Geschichten zuweilen pointieren, manchmal überraschen und wie im 
    beschriebenen Fall auch erschrecken können. Die modernen Wandersagen haben 
    im Zeitalter der globalen Vernetzung durch das Internet Hochkonjunktur. 
    Blitzschnell werden so aus einfachen Gerüchten so 
    genannte FOAF-Stories („Friend of a Friend“ – "Ich 
    hab es von einem Freund eines Freundes gehört"). 
     
    Ebenso wie im Pressewesen 
    oft behauptet, folgen auch die 
    Verfasser der "urban legends" dem Grundsatz: „Only bad news are good
    news“. Das Prinzip lautet: Je 
    schräger
    eine Nachricht ist, desto besser. Ein besonders 
    bekanntes und abstoßendes Beispiel dieser Kategorie ist die „Bonsai-Katze“. 
    Die völlig frei erfundene Story geht so: Ein Japaner 
    züchtet und verkauft über das Internet so genannte „ Bonsai 
    Kitten“. Den jungen Kätzchen wird hierfür ein muskelentspannendes 
    Mittel verabreicht, um sie lebend in Flaschen zu züchten. Die 
    Knochenstruktur der heranwachsenden Katzen, die durch ein Röhrchen gefüttert 
    werden, passt sich langsam der Flasche an und  fertig ist ein ausgefallener 
    Schmuckgegenstand für die Glasvitrine. Die Aufregung war riesengroß – und 
    das weltweit. Tierschutzorganisationen haben sich 
    eingeschaltet und – wen wundert es – Nachrichtenagenturen die
    gruselige Falsch-Meldung aufgenommen. 
     
    Die meisten Fälle sind weniger spektakulär. So appellieren 
    nach dem altbekannten Prinzip des Kettenbriefs funktionierenden Mails an das 
    Gewissen der Empfänger oder bitten unverblümt um Unterstützung für 
    notleidende Menschen. Oft kursieren auch so genannte E-Petitionen im Netz. 
    Unterschriftenlisten, die sich per E-Mail verbreiten. Die Hilfsorganisation 
     Amnesty International 
    warnt sogar vor solch dubiosen Unterschriftenlisten, da sie völlig wertlos 
    seien und sogar dem beabsichtigten guten Zweck schaden können.  
     
    Durch das Schneeball-Prinzip nimmt die Zahl der abstrusen Geschichten 
    ständig zu. So ist es auch 
    nicht verwunderlich, dass sich auch Wissenschaftler mit dem Verbreitungsphänomen 
    der urbanen Legenden beschäftigen. „Menschen sind zu Klatsch und 
    Tratsch veranlagt und wollen Neuigkeiten und Ansichten 
    austauschen“, so die britische Psychologin Susan Blackmore. Die 
    Wissenschaftlerin benutzt als Erklärungsversuch für die rasante Verbreitung 
    urbaner Legenden das umstrittene  
     Mem-Konzept des Biologen Richard Dawkins. 
     
    Blackmore führt das Großstadtmärchen von der Amerikanerin an, 
    die ihren Pudel in einer Mikrowelle zu Tode getrocknet haben soll. „Diese 
    Geschichte ist so bekannt, dass Millionen von Menschen weltweit davon gehört 
    haben – aber  vielleicht eine andere Version (wie 
    die mit der Katze oder dem Chihuahua)", so Blackmore. 
     
    Aber wie kann man sich als einfacher Internetnutzer angesichts einer immer 
    weiter wachsenden Zahl von Falschmeldungen und urbaner Legenden überhaupt 
    noch sicher sein, was Wahrheit und was frei erfunden ist? 
    Was ist dran an der Geschichte, 
    die per Weiterleitungs-Funktion vom besten Freund oder der besten Freundin 
    ins Haus flattert? Oder die gar in den Nachrichtenangeboten 
    verbreitet wird? 
     
    Wer auf Nummer sicher gehen will, findet im Netz 
    nicht nur manch abstruse Geschichte, sondern auch Hilfe, um 
    virtuelle Enten zu entlarven.  
    Frank Ziemann 
    von der Technischen Universität Berlin, der auf der Seite 
     hoax-info allerlei Falschmeldungen aus dem Netz auflistet, warnt 
    eindringlich davor, jeden Unfug einfach weiterzuschicken.
    Auf 
     Snopes.com kann der verunsicherte User mittels einer 
    Suchmaske manch abenteuerlicher Geschichte gezielt 
    auf den Grund gehen und die 25 
    häufigsten Legenden nachlesen. Spätestens nach der Geschichte von der 
    angeblich erfundenen Stadt Bielefeld bleibt aber die Erkenntnis, dass die 
    meisten urbanen Legenden im Internet völlig harmlos sind. 
    Und: Kopf einschalten hilft bekanntlich auch.   | 
    
    AUSGABE 46 
    DAS SOZIALE NETZ 
     
     
      
     
    
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