| 
     
    
    1960 legten die Politikwissenschaftler Angus Campbell, Philipp Converse, 
    Warren Miller und Donald Stokes ein einflussreiches Modell zur Analyse von 
    Wahlentscheidungen vor. Neben langfristigen Parteienbindungen – die als 
    Parteienidentifikation bezeichnet wurden – seien politische Persönlichkeiten 
    und Themen wahlentscheidend. Heute kommt wohl insbesondere letzten beiden 
    Faktoren des sog. „Ann-Arbor-Modells“ große Bedeutung zu. Langfristige 
    Loyalitäten und Parteibindungen sind im Zuge gesellschaftlicher 
    Transformationsprozesse der Nachkriegszeit nicht vollends verschwunden, aber 
    wesentlich brüchiger geworden. Auch die deutschen Parteien – allen voran die 
    SPD, die vielen immer noch als „Partei der kleinen Leute“ gilt – waren 
    ursprünglich Broker der Interessen fest umrissener Milieus und 
    identifizierbarer gesellschaftlicher Gruppen. Heute können die großen 
    Parteien fast nicht anders, als „catch-all-parties“ (Otto Kirchheimer) zu 
    sein, bei denen die Maximierung von Wählerstimmen aus allen 
    gesellschaftlichen Schichten oben auf dem Programm steht.  
     
    Wenn das unbekannte Wesen Wähler dann die Wahlkabine betritt, wurden im 
    Vorfeld eher selten Programme miteinander verglichen. Auch hat der Wähler 
    eher selten eine dezidierte Leistungsbilanzierung der Regierungsparteien in 
    den Politikfeldern Haushalt, Finanzen und innere Sicherheit vorgenommen. Das 
    hat nicht unbedingt mit Desinteresse und der oft zitierten 
    Politikverdrossenheit zu tun, eher aber mit jener Komplexität, die 
    politische Praxis heute grundsätzlich ausmacht. Nicht nur die berüchtigte 
    Gesundheitsreform wäre ein Beispiel für jene Politikfelder, in denen sich 
    selbst ausgewiesene Experten nur mit Mühe einen Überblick verschaffen 
    können. Der „Durchschnittsbürger“ aber, dessen Alltag und Freizeit sich oft 
    im politikfernen Bereich abspielt, zieht bei der Bewertung von Parteien und 
    deren Kandidaten verständlicherweise jene Informationen heran, die ihm 
    kurzfristig verfügbar sind. So zumindest sehen es die Wahlforscher. Es 
    handelt es sich dabei häufig um einzelne politische Themen, denen der Wähler 
    persönlich zum Zeitpunkt der Wahl eine hohe Bedeutung beimisst. 
    Wissenschaftler sprechen von einer Art inneren Rangfolge wichtiger Themen 
    und bezeichnen diese als Agenda. Im Licht dieser persönlichen Agenda 
    relevanter und weniger relevanter Themen werden Kandidaten und Parteien, die 
    zur Wahl stehen, bewertet. Dies hat wichtige Implikationen. Beschäftigt 
    viele Menschen – etwa nach einem Terroranschlag – das Thema der inneren 
    Sicherheit, werden sie Parteien und ihre Repräsentanten zumindest auch 
    danach bewerten, ob sie sich im Themenfeld innere Sicherheit als kompetent 
    erweisen.  
     
    Weil diese Themenprioritäten also heute bei Wahlentscheidungen ganz offenbar 
    eine wichtige Rolle spielen, setzt sich die Wissenschaft schon seit längerer 
    Zeit mit der Frage auseinander, wie diese Themenrangfolge, oder 
    „Publikumsagenda“ eigentlich zustande kommt. Obwohl politische Parteien 
    sicher zu jenen Gruppen gehören, die ein unmittelbares Interesse an der 
    Formung der öffentlichen Meinung haben, standen und stehen nicht sie, 
    sondern die Medien  im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. 
     
     
    1972 
    legten die Kommunikationswissenschaftler McCombs und Shaw eine wegweisende 
    Arbeit vor. Ihre „Chapel Hill“-Studie zeigte sehr große Übereinstimmungen 
    zwischen der Agenda der Medien und der Agenda der Wähler. Viele 
    Nachfolgerstudien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: offenbar bestimmen die 
    Medien tatsächlich bis zu einem bestimmten Grad, was Menschen wichtig ist, 
    welche Themen in der Bevölkerung große Bedeutung haben. 
     
    „Alles was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Medien“ lautet ein 
    oft bemühtes Zitat des Soziologen Niklas Luhmann. In der Tat spielen die 
    Medien in der Welt- und also auch in der Politikwahrnehmung eine entscheidende 
    Rolle. Sie bauen an dem mit, was wir als politische Wirklichkeit empfinden. 
    Nur wenige Menschen haben aus erster Hand einen Einblick in den 
    „Politikbetrieb“, und auch diese Einsichten beschränken sich in der Regel 
    auf lokal-regionale Bereiche und eingegrenzte Fachgebiete. Begriffe wie 
    Mediendemokratie, die längst selbstverständlich zur Beschreibung unserer 
    Gegenwart benutzt werden, tragen dem Umstand Rechnung, dass die Medien 
    längst vom Chronisten aufgestiegen sind zu einer eigenen Größe im Spiel der 
    Politik, auf die sich andere Akteure – unter ihnen vor allem die Parteien – 
    einstellen müssen.  
     
    Das betrifft auch das Agenda-Setting durch die Parteien. Einerseits besteht 
    für sie ein großer Anreiz, gerade im Vorfeld von Wahlen die Komplexität und 
    Widersprüchlichkeit der politischen Wirklichkeit zu reduzieren, ein 
    geeignetes Thema auszuwählen und in der Öffentlichkeit zu positionieren. Das 
    Ziel ist es dabei, ein Thema zu finden, über das Menschen sprechen, dass die 
    eigene Partei in günstigem Licht erscheinen lässt und das Menschen im 
    Idealfall kurzfristig dazu motiviert, dass entsprechende Kreuz zu setzen. 
    Anderseits führt dieser Weg zur Agenda der Menschen offenbar nur über die 
    Agenda der Medien.  
     
    Grundsätzlich ist die Politik, so schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich 
    Sarcinelli, „auf die Publizität durch die allgemein zugänglichen 
    Massenmedien angewiesen“. Gewiss verfügen die Parteien auch über eigene 
    Medien. Trotz sinkender Auflagen werden z. B. im Monat rund 500.000 Exemplare 
    des „Vorwärts“ verteilt. Was die Verbreitung betrifft, rangiert das 
    SPD-Parteiorgan damit noch vor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dennoch 
    beschränkt sich der Leserkreis auf die Basis der eigenen Partei. Ansonsten 
    fehlt es den Parteien nach Expertenmeinung oft an den Mitteln, über die 
    eigene Klientel hinaus eine direkte Wählerkommunikation aufzubauen und auf 
    Dauer zu stellen, die sich von den „störenden Einflüssen“ der Medien 
    unabhängig macht.  
     
    Da Parteien sich ihrer Umwelt anpassen müssen, um dauerhaft zu überleben, 
    ist auch die Bedeutungszunahme der Massenmedien an den Parteiorganisationen 
    nicht spurlos vorüber gegangen. Sie haben darauf mit einer internen 
    Professionalisierung reagiert, die neben einer grundsätzlichen Aufwertung 
    der Parteiführung (zulasten der Basis) auch eine Professionalisierung der 
    Kommunikation nach innen und nach außen betrifft. Press Relations, Public 
    Relations, Public Affairs – all dies sind für Parteien längst keine 
    Fremdwörter mehr. Vor allem zum Fernsehen und zu den Printmedien, zum 
    „publizistischen System“ als Gatekeeper der öffentlichen Meinung, haben 
    Parteien längst „marktförmige Beziehungen“ etabliert, wie die 
    Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann und Stefan Marschall anmerken. „In 
    den Parteiorganisationen sind Stellen eingerichtet und über die Jahre hinweg 
    ausgebaut worden, deren primäre Aufgabe darin besteht, Journalisten zu 
    betreuen. Öffentlichkeitsarbeit als modernes Kommunikationsmanagement gehört 
    zum Repertoire eines jeden politischen Akteurs, ob Individuum oder 
    Organisation“.    
     
    Wirft man einen Blick in die einschlägige Literatur, so findet sich in 
    Büchern über politische Öffentlichkeitsarbeit, Wahlkampf und 
    Kampagnenplanung oftmals auch ein Kapitel zum Bereich „Themenmanagement“. 
    Diese Kommunikationsstrategie zielt im Wesentlichen darauf ab, die 
    Medienagenda zu beeinflussen und über diesen „Umweg“ die Vorstellungen des 
    Elektorats zu prägen. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider 
    unterscheidet dabei drei Basistechniken. Beim aktiven Setzen der politischen 
    Tagesordnung – Agenda-Setting – werde versucht, jene Themen in die 
    Medienberichterstattung zu lancieren oder dort zu halten, bei denen entweder 
    die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung als kompetent 
    angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung bei der gegnerischen Partei 
    und dem gegnerischen Kandidaten Defizite wahrnimmt. Beim Agenda-Cutting 
    gelte es, jene Themen aus der Medienberichterstattung fernzuhalten oder sie 
    von dort verschwinden zu lassen, bei denen entweder die eigene Partei bzw. 
    der eigene Kandidat von der Bevölkerung nicht als kompetent angesehen werden 
    oder die Bevölkerung der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten 
    größere Problemlösungsfähigkeit zuschreibt. Drittens beschreibt 
    Brettschneider auch noch Agenda-Surfing. Wenn man das in der 
    Medienberichterstattung existierende Themen-Set nicht beeinflussen könne – 
    Stichwörter: Elbe-Flut oder Irakkrieg –, dann werde laut Brettschneider 
    versucht, dieses Themen-Set zum eigenen Vorteil zu nutzen. 
     
    Aber was ist überhaupt ein „gutes“ Issue, oder ein „Gewinnerthema“, wie der 
    Politikberater Marco Althaus formuliert? Spezialisten aus dem Bereich 
    politischer Kommunikation haben hier allerhand Kriterien formuliert. Ganz 
    gewiss muss sich ein potenziell geeignetes Thema einerseits an den 
    berühmt-berüchtigten Nachrichtenfaktoren orientieren. Ist das Thema aktuell 
    und relevant, lässt es sich gut personalisieren, können an ihm Konflikte 
    dargestellt werden, so hat es eher eine Chance, bei Nachrichtenagenturen, 
    TV-Stationen und Radiosendern Gehör zu finden. Auf der anderen Seite gilt 
    es, ein Thema zu finden, an dem sich die durch Bürger zugewiesenen 
    Problemlösungskompetenzen der Parteien anschaulich demonstrieren lassen. 
    Parteien verfügen trotz schleichendem Profilverlust im Zeitalter der großen 
    Koalition immer noch über recht typische Kompetenzprofile in der Wahrnehmung 
    der Bürger. So ist die CDU noch eher die Partei, die Kompetenzen in den 
    Bereichen Wirtschaft und innere Sicherheit aufweist, während die Felder 
    Sozialpolitik und Umwelt traditionell von der SPD abgedeckt werden. 
    Demoskopische Institute ermitteln diese Kompetenzen regelmäßig und Parteien 
    wiederum nutzen diese Erkenntnisse für ihre strategische Ausrichtung. 
     
    Wie eingangs bereits kurz angerissen, ist die Arbeit an der Medienagenda – 
    und damit die Arbeit an der Publikumsagenda für Parteien von großer 
    Bedeutung. Dominierende Themen in den Medien sind auch die Themen, in deren 
    Licht Kandidaten und Parteien von den Wählern betrachtet werden. „There is a 
    relationship between patterns of news coverage and the criteria with which 
    the public evaluates politicians”, meint der Kommunikationsforscher Shanto 
    Iyengar. In den 1980er Jahren legte der Stanford-Professor zusammen mit 
    Kollegen Studien vor, die zeigten, dass die mediale Konzentration auf 
    spezielle Themen im Wahlkampf indirekt so genannte „Priming-Effekte“ auf das 
    Image eines Kandidaten zur Folge haben können. Bei der Einschätzung von 
    Kandidaten oder Parteien beziehen sich die Menschen nicht auf ihr gesamtes 
    Wissen, sondern auf das, was ihnen besonders leicht einfällt. Wird also in 
    den Medien zu Wahlkampfzeiten intensiv über das Thema Arbeitslosigkeit 
    berichtet, so wird eine Partei bzw. ihr Personal durch die „Themenbrille“ 
    Arbeitslosigkeit bewertet.  
     
    In der politischen Praxis findet Agenda-Setting in ungezählten alltäglichen 
    Austauschprozessen zwischen politischem und publizistischen System, zwischen 
    Politikern, deren Beauftragten und Journalisten statt. Dabei kommt den 
    Parteien zugute, dass auch die „Gegenseite“, die Medienvertreter, insgesamt 
    auf gute Kontakte in die Politik hinein angewiesen sind. So profitieren alle 
    von einer gewissen Reziprozität. „Der Journalist, der die Nähe zu 
    Machteliten sucht, tauscht seine Dienste als Instrument, das beim Setzen der 
    Medienagenda behilflich ist, gegen Status und exklusive Informationen ein“. 
    Dergestalt fasst der Politikwissenschaftler Wolfgang Eichhorn die 
    alltägliche Dynamik des Agenda-Setting zusammen. „Aber der journalistische 
    Alltag besteht nicht nur aus direkten Kontakten zu Informationsquellen, ein 
    Großteil des Inputs ist der Output des Systems subsidiären Journalismus’, 
    von Öffentlichkeitsabteilungen von Unternehmen, Verwaltungen, 
    Interessengruppen. Dieser Input ist meist schon vorstrukturiert, optimiert 
    in Richtung dessen, was PR-Leute – häufig selbst Journalisten – als 
    berichtenswert ansehen. Medienexterne Akteure versuchen also, mediale 
    Agendas über direkte Kontakte und über eine geeignete Vorstrukturierung des 
    Inputs der Medien zu steuern“.  
     
    Wer Begriffe wie „Issue-Management“ im Zusammenhang mit Parteien gebraucht, 
    geht zumindest implizit davon aus, dass Parteien tatsächlich in der Lage 
    sind, ihnen „passende“ Themen strategisch auf der Medien-Agenda zu lancieren 
    und damit auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Entspringt aber 
    diese Vorstellung nicht doch den Machbarkeitsphantasien des professionellen 
    Politikmarketing? Die Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Eilders hat 
    zusammen mit einigen Kollegen den Bundestagswahlkampf 2002 untersucht. Die 
    Autoren bestätigen in dieser Studie prinzipiell die These der „starken 
    Medien“. Die rivalisierenden Parteien versuchen zu Wahlkampfzeiten die 
    jeweils ohnehin bestimmenden Themen zu besetzen, sie „surfen auf der 
    medialen Agenda“. Hingegen sei das eigenständige Agenda-Building bei allen 
    Parteien nur mäßig erfolgreich. 
     
    Was aber ist gewonnen, wenn ein (vermeintliches) Gewinnerthema, mit oder 
    ohne Hilfe der Medien, tatsächlich oben auf der medialen Agenda gelandet 
    ist? Schauen wir dazu nach Hessen. Im Vorfeld des Landtagswahlkampfes 2008 
    verringerte sich der Abstand zwischen Ministerpräsident Roland Koch und 
    seiner CDU zur Herausforderin Andrea Ypsilanti. Nun musste, ganz im Sinne 
    moderner Wahlkampfführung und Issue-Management ein Thema gefunden werden, 
    dass der hessischen CDU wieder etwas Luft verschaffen konnte. Während die 
    CDU im Nachbarland Niedersachsen (nicht zuletzt durch die Popularität des 
    Landesvaters) den sicheren Abstand zur SPD durch eine Wahlkampfkommunikation 
    der ruhigen Hand ins Ziel rettete, wählte Koch einen Weg, der für amtierende 
    Ministerpräsidenten eher unüblich ist. Um die Themenhoheit in Hessen 
    (wieder) zu gewinnen, setzte man konfrontativ auf das Thema Jugend- und 
    Ausländergewalt, hinter dem sich das „Megathema“ innere Sicherheit verbarg. 
    Mit dem Kampf für einen Mindestlohn hatte sich zuvor bereits die hessische 
    SPD mit einem durchaus zugkräftigen Thema in Stellung gebracht.  
     
    Ein trauriger Zufall wollte es, dass ein Münchner Rentner Opfer eines 
    brutalen Überfalls durch zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund wurde. 
    Die Medien griffen den Zwischenfall auf, auch weil eine Überwachungskamera 
    die Attacke festgehalten hatte, es demnach medial verwertbares Bildmaterial 
    gab. In den Worten von Brettschneider und Eilders ließe sich nun durchaus 
    sagen, dass die hessische CDU geschickt auf eine bereits anrollende 
    Themenwelle aufsprang und diese dann „absurfte“. Tatsächlich stand bei 
    vielen Medien schon vor dem Hessenwahlkampf das Thema Jugendgewalt auf der 
    Agenda. Im Berliner Tagesspiegel erschienen z. B. 2007 in regelmäßigen 
    Abständen Artikel über Jugendgewalt in der Bundeshauptstadt. So konnte Koch 
    zwar nicht „gegen“ die existierende Medienagenda durchdringen, bemächtige 
    sich aber findig eines Themas, dass bereits auf der Medienagenda stand, und 
    schaffte es durch immer neue Beiträge, dass Thema Jugendgewalt oben auf der 
    Aufmerksamkeits- und Relevanzskala zu halten.  
     
    Zweifellos war diese Kommunikationsstrategie mit der Hoffnung auf 
    Priming-Effekte verknüpft: Dominierte bei den Wählern das Thema innere 
    Sicherheit auch noch zur Wahl, erhofften sich die CDU-Strategen einen 
    taktischen Vorteil, weil dieser Bereich eben traditionell zu den 
    Kompetenzthemen der CDU gehört. Da das Thema Jugendgewalt tatsächlich in 
    aller Munde war, schien die CDU erfolgreiches Agenda-Setting betrieben zu 
    haben. Fast zwei Drittel der Hessen gaben in Umfragen der 
    Meinungsforschungsinstitute an, dass Roland Koch „ein wichtiges Thema 
    angesprochen“ habe. Gleichsam hatte man auch in Sachen Agenda-Cutting 
    Erfolg. Das SPD-Kernthema soziale Gerechtigkeit, in Gestalt des 
    Mindestlohnes, konnte nicht nur Hessen-, sondern bundesweit von der Agenda 
    geschoben werden. Dabei aber blieb es nicht.  
     
    „Anfangs“, notierte Bernd Gäbler im Berliner Tagesspiegel, „wirkte Kochs 
    Kampagne auch gut synchronisiert mit den Themen der ‚Bild-Zeitung’. Dann 
    aber fiel das Thema ins Stimmengewirr des Medienpluralismus. Alle 
    diskutierten. Jeder hatte eine Meinung“. So mochte Koch vielleicht im 
    Verbund mit einigen Medien „sein“ Thema an die Spitze der medialen 
    Themenrangliste gehievt haben. Dann aber, so Gäbler weiter, „musste er 
    herabsteigen vom Thron einer überlegenen Position mitten hinein ins 
    Schlachtgetümmel“. Und dort traten die Medien auf den Plan. Je länger über 
    das Thema berichtet wurde, desto mehr wurden Programme und Wahlversprechen 
    analysiert, Gewaltstatistiken in Hessen nachgeprüft und die Entwicklung 
    öffentlicher Ausgaben im Bereich Polizei rekonstruiert. Damit war die Büchse 
    der Pandora geöffnet. Rasch tauchten erste Meldungen auf, nach denen die 
    Jugendgewalt in Hessen am stärksten angestiegen sei, dass die 
    Landesregierung unter CDU-Führung im Polizeibereich massive Kürzungen 
    vorgenommen habe. Der politische Konkurrent unterstützte diese Lesart 
    natürlich.  
     
    So kam es schließlich, wie der Meinungsforscher Richard Hilmer von Infratest 
    Dimap schon vor der Wahl vermutet hatte: der Einthemenwahlkampf rund um 
    Jugend- und Ausländerkriminalität erwies sich als riskant und kostete Koch 
    beinahe die Mehrheit. Wie angesprochen zeigten Meinungsumfragen zwar kurz 
    vor der Wahl, dass eine Mehrheit der Befragten das Thema relevant fand. 
    Gleichsam aber befanden 65 Prozent der Befragten, dass die Lösungsvorschläge 
    der Hessen-CDU „nicht die richtigen" seien. Und sogar 82 Prozent waren der 
    Ansicht, dass Koch "erst mal seine eigenen Hausaufgaben in Hessen machen und 
    dafür sorgen sollte, dass es dort schneller zu Gerichtsurteilen kommt". Mit 
    36,8 Prozent der Stimmen blieb die hessische CDU dann zwar denkbar knapp 
    stärkste Kraft, musste aber im Vergleich zur Wahl 2003 erdrutschartige 
    Verluste hinnehmen. Und dies obwohl die CDU mit „ihrem“ Thema Jugendgewalt 
    den Wahlkampf geprägt hatte, während die Unterschriftenaktion der Konkurrenz 
    zum Thema Mindestlohn in der Öffentlichkeit kaum stattfand.  
     
    Hatte die hessische CDU auf das falsche Thema gesetzt? Eine erste Lektion 
    mag wie folgt lauten: auch Kompetenzthemen können polarisieren und damit 
    nicht nur die eigene Klientel zum Gang an die Wahlurne mobilisieren. Im 
    Licht erster Wahlanalysen wurde zweitens deutlich, dass sich die 
    Themenagenda der Wähler schnell wandeln kann. Bei den tatsächlichen 
    Wahlentscheidungen waren die Themen Arbeitslosigkeit und Bildungspolitik in 
    Hessen offensichtlich wichtiger gewesen, als es ursprünglich in 
    Vorfelderhebungen den Anschein hatte. Hier freilich stehen die Spin-Doctors 
    aller Parteien vor einer großen Herausforderung. Wie kann eine 
    Kommunikationsstrategie, die eigentlich von langer Hand vorbereitet werden 
    muss, auf solche heute typischen, kurzfristigen Präferenz- und 
    Einstellungsveränderungen der Wählerschaft reagieren? Drittens zeigte sich, 
    dass die Kompetenzwerte der hessischen CDU im Themenfeld innere Sicherheit 
    gerade während der heißen Wahlkampfphase gelitten hatten. War diese 
    Entwicklung nicht auch Ursache der medialen Dauerdurchleuchtung des Themas 
    Jugendkriminalität? Viertens lässt sich im Sinne des Politikwissenschaftlers 
    Bernhard Cohen – „[The press] may not be successful much of the time in 
    telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its 
    readers what to think about” – festhalten, dass Parteien vielleicht Themen 
    setzen können, aber nicht darüber bestimmen, wie dieses Thema von den Medien 
    und den Menschen schließlich ausgelegt wird. Hier machen sich Begriffe wie 
    Themenmanagement in Handbüchern der Polit-PR sicher gut, suggerieren jedoch 
    eine gezielte Beeinflussbarkeit der öffentlichen Meinung, die so nicht 
    gegeben scheint.  
     
    Ein Thema auf die mediale Tagesordnung zu befördern und auf der 
    Relevanzskala nach oben zu bringen, ist schließlich nur der erste Schritt 
    für politische Parteien. Weiterhin muss es darum gehen, das Thema 
    kontinuierlich mit einem bestimmten, für Parteien förderlichen 
    Bedeutungsrahmen zu versehen. Dieser Prozess wird im Fachjargon oft als „second-level 
    agenda-setting“ oder auch „framing“ bezeichnet. Hier vollzieht sich ein 
    immerwährender Kampf um Deutungshoheit, zwischen Parteien, „den“ Medien und 
    auch anderen Interessengruppen. Es geht dabei um die diskursive Durchsetzung 
    von Problemdefinitionen, kausalen Interpretationen, es geht um 
    moralisch-normative Beurteilungen und „angemessene“ Lösungsmöglichkeiten 
    politischer Probleme. Ob diese Praxen in einer plural-komplexen 
    Mediengesellschaft durch Parteien strategisch unter Kontrolle gebracht 
    werden können, ist diskutabel. Aus Sicht der Parteien und ihrer Strategen 
    mag dies bedauerlich sein, für eine Demokratie nicht unbedingt. Aber das ist 
    nun wieder ein anderes Thema.   | 
    
     
    Der Autor 
     
    
      
     
    
    Christian 
    Junge 
     
    Geboren am 17. Oktober 1975. Sozialwissenschaftler. Studium der 
    Soziologie, Politikwissenschaft und Europäischen Ethnologie / 
    Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, der University of 
    Manchester und der Universität Konstanz. Derzeit Doktorand an der 
    Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftlicher Mitarbeiter im 
    Deutschen Bundestag. 
    
    Zuletzt Visiting Scientist am Department of Political Sciences der Columbia 
    University, New York; seit 2005 Promotionsstipendiat der 
    Konrad-Adenauer-Stiftung. 
    Letzte 
    Veröffentlichung: „Parteien in Berlin“ zusammen mit Jakob Lempp.  
     
     
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