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    Was verletzt 
    die Berufsehre von Journalisten am meisten? Wenn sie Falsches berichten? 
    Wenn sie die Privatsphäre Prominenter verletzen? Oder wenn sie Banalitäten 
    zu Sensationen aufbauschen?  
     
    Das alles sind gewiss gravierende Verfehlungen. Die schwerste Verfehlung 
    aber ist, wenn Journalisten etwas nicht berichten, obwohl es in die 
    Öffentlichkeit gehört. Denn ihre Aufgabe ist nicht, dem Publikum Gutes zu 
    tun oder es vor Schädlichem zu bewahren; seit es Journalisten gibt, besteht 
    ihre Aufgabe darin, alles Aktuelle bekannt zu machen, was der Einzelne 
    wissen muss, um sein Leben auf der Höhe der Möglichkeiten zu gestalten, und 
    was die Gesellschaft an Transparenz braucht, um sich selbst zu regulieren.
     
     
    Die schwerste journalistische Verfehlung ist deshalb, über etwas nicht zu 
    berichten, das der Einzelne und die Gesellschaft erfahren sollten. Da eine 
    konsensfähige Entscheidung über solche Relevanz nur aus einem Diskurs 
    hervorgehen kann, der seinerseits Öffentlichkeit voraussetzt, haben 
    Journalisten eine Grundpflicht zum Publizieren, von der im Prinzip kein 
    Thema ausgenommen ist. In der Praxis wird diese professionelle Grundpflicht 
    allerdings durch das Abwägen mit konkurrierenden Pflichten begrenzt, etwa 
    dem Verbot, die Privatsphäre dargestellter Personen zu verletzen. 
     
    Praktische Konsequenz aus dieser Konstellation ist die journalistische 
    Verpflichtung zu umfassender Berichterstattung. Dass es vergessene Kriege 
    auf der Welt gibt, über die in den Medien (fast) nie berichtet wird, ist aus 
    journalistischer Sicht bedenklicher als die Befürchtung, zu viel Gewalt auf 
    den Bildschirmen könne zur Nachahmung anregen.  
     
    Da das (Ver-)Schweigen als die schwerste journalistische Sünde gelten muss, 
    hat es für den Journalismus besondere Bedeutung, warum Probleme und Themen 
    nicht (ausreichend) an die Öffentlichkeit kommen, welche Arten von Problemen 
    und Themen das sind und was sich gegen solche Öffentlichkeitsdefizite 
    unternehmen lässt. 
     
    Antworten sind den Listen öffentlich vernachlässigter Missstände zu 
    entnehmen, die die „ Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA) jährlich 
    veröffentlicht. Nach dem Vorbild des US-amerikanischen „Project Censored“ 
    wurde die INA 1997 von Peter Ludes an der Universität Siegen gegründet. Die 
    Geschäftsführung liegt seit 2002 bei der Professur für Theorie und Praxis 
    des Journalismus an der TU Dortmund.  
     
    Die INA weist auf in den Medien zu kurz kommende Sachverhalte hin, die aus 
    der Bevölkerung an sie herangetragen werden. In Rechercheseminaren, die 
    bisher an den Universitäten Siegen, Dortmund, Münster, Bonn und an der 
    Hochschule Darmstadt veranstaltet wurden, werden diese Vorschläge daraufhin 
    überprüft, ob das entsprechende Problem tatsächlich existiert und für 
    Journalisten erforschbar ist (Triftigkeit) und ob darüber tatsächlich nicht 
    oder zu wenig berichtet wurde (Vernachlässigung). Letzteres wird mit Hilfe 
    einer Pressedatenbank kontrolliert.  
     
    Das dritte Kriterium, die Relevanz, wird am Ende von der INA-Jury 
    eingeschätzt. Ihr gehören zur Hälfte Journalisten, zur anderen Hälfte 
    Wissenschaftler an, um im Blick zu halten, dass öffentliche Vernachlässigung 
    sowohl mit Druck von außen auf den Journalismus als auch mit seinen 
    innerprofessionellen Mechanismen zu tun haben kann. Die Jury trifft sich im 
    Januar, spätestens Anfang Februar und publiziert dann eine Top-Ten-Liste der 
    am meisten vernachlässigten Missstände. Zweck dieser Liste ist, Journalisten 
    zum Recherchieren und Publizieren der aufgeführten Probleme anzuregen. 
     
    Für 2007 hat die INA am 7. Februar 2008 eine Liste von nur acht Themen 
    beschlossen, da die Hinweise von außen nach der Prüfung durch 
    Rechercheseminare und Jury nicht mehr hergaben. Quantität und Qualität der 
    Einreichungen lassen generell zu wünschen übrig, was aber nicht als Beleg 
    missverstanden werden darf, als ob die Medien nichts untergehen ließen. 
    Vielmehr zeigt es das Dilemma, dass auf Verschwiegenes, eben weil es nicht 
    bekannt ist, auch kaum hingewiesen werden kann. Öffentliche Vernachlässigung 
    zeugt sich aus sich selbst heraus fort.  
     
    Gleichwohl lassen einige der kürzlich bekannt gewordenen Top-Themen 
    Rückschlüsse zu, aus welchen Gründen problematische Sachverhalte von den 
    Medien nicht beachtet werden. Vollständig kann die aktuelle INA-Liste 
    
     im 
    Internet abgerufen werden. Aufschlussreich ist bereits das 
    Spitzen-Thema: 
     
    Absprachen über Terminierungsentgelte im deutschen Handynetz 
    
     
    Deutsche Handynutzer zahlen seit Jahren zu hohe Minutenpreise, da es 
    zwischen den vier Netzbetreibern T-Mobile, Vodafone, O2 und E-Plus 
    Absprachen über die Terminierungsgebühren gibt. Darunter werden die Kosten 
    verstanden, die bei einem Anruf in ein anderes deutsches Mobilnetz 
    entstehen. Hier lagen Verabredungen zwischen den Betreibern über ein 
    dauerhaft hohes Niveau vor. So entsteht den Nutzern ein jährlicher Schaden, 
    der in die Milliarden geht. Dieses Problem wurde aufgrund der intensiven 
    Mediendebatten über zu hohe Roaminggebühren überdeckt. 
     
    Hier kommen zwei Faktoren zusammen, die dazu beitragen, dass Journalisten 
    manche Themen kaum wahrnehmen, geschweige denn darüber berichten. Der erste 
    wird in der Erläuterung der Jury erwähnt. Paradoxerweise kann öffentliche 
    Vernachlässigung durch ein Übermaß an öffentlicher Aufmerksamkeit bewirkt 
    werden. Dass Medien sich bei der Themenauswahl an anderen Medien 
    orientieren, führt zu zeitweiligen Überkonjunkturen mancher Probleme, die 
    dann andere verdrängen. Die Verstopfung der öffentlichen 
    Kommunikationskanäle mit solchem Informationsmüll kann sich derart steigern, 
    dass phasenweise fast nur noch ein Thema Aufmerksamkeit findet und alles 
    andere im Dunkeln bleibt. Nach dem 11. September 2001 oder vor dem Beginn 
    des Irak-Krieges wären günstige Zeiten für Politiker gewesen, um unliebsame 
    Maßnahmen ohne das Risiko intensiver Medienbeobachtung zu beschließen. 
     
    Der zweite Grund liegt in der Kompliziertheit des Problems. Jeder weiß, dass 
    die Deregulation des Telefonmarkts schon für den normalen Nutzer zu einer 
    Undurchsichtigkeit der Angebote geführt hat, die die 
    Selbstregulierungskräfte dieses Marktes kaum zur Geltung kommen lässt. Um 
    wie viel schwieriger ist es für Journalisten, sich im Dickicht des 
    Telefonmarktes zurechtzufinden, um illegitime Preisabsprachen aufzudecken. 
    Das erfordert einen Aufwand bei der Recherche, den die wenigsten 
    Journalisten sich leisten können. Diesen Vernachlässigungsgrund greift das 
    dritte Thema auf: 
     
    Qualitätsverluste im Journalismus 
    
     
    Schon heute arbeitet in Deutschland jeder dritte Journalist ohne feste 
    Anstellung. Die seit 2001 anhaltende Medienkrise lässt die Zahl der „Freien“ 
    weiter wachsen. Fehlender Kündigungsschutz und unzureichende soziale 
    Absicherung führen zu gravierenden Qualitätseinbußen. Journalisten 
    recherchieren weniger und verlassen sich zunehmend auf PR-Material. 
    Unabhängige Information wird immer seltener. Da Medienbetriebe durch diese 
    Entwicklung Kosten sparen, wird darüber kaum berichtet. 
     
    Bei diesem Thema haben wir es mit einer Vernachlässigung zu tun, bei der 
    äußerer Druck auf den Journalismus die entscheidende Rolle spielt. Natürlich 
    ist es nicht nur der eigene Betrieb mit seinem Kostenkalkül und seinem 
    Interesse an konfliktfreier Außendarstellung, der auf Journalisten so 
    einwirkt, dass Themen, die diesen Zielen hinderlich sind, nicht hinreichend 
    recherchiert und publiziert werden. Es können beispielsweise auch 
    Anzeigenkunden und politische Gewalten sein, die durch Druck von außen 
    Vernachlässigung hervorrufen. Das ist Journalisten als Ursache von 
    Nicht-Thematisierung bewusster als die professionstypischen Regelmäßigkeiten 
    des eigenen Verhaltens und wird von Medienkritikern auch häufiger 
    angeprangert.  
     
    Beim Thema vier spielen die Gewohnheiten und Erwartungen des Publikums eine 
    besondere Rolle: 
     
    Chemikalien gefährden die Fruchtbarkeit – 
     
    eine „tickende Zeitbombe“? 
    
     
    Viele Chemikalien, mit denen der Mensch im Alltag in Berührung kommt, wie 
    Lacke oder Kosmetik-Bestandteile, können Einfluss auf die Fruchtbarkeit des 
    Menschen nehmen. Nach einer großen Mediendebatte Mitte der 90er Jahre wurde 
    das Thema von deutschen Medien kaum noch aufgegriffen – obwohl diese Stoffe 
    biologisch nicht abbaubar sind, und ihre Konzentration in der Umwelt stetig 
    zunimmt. Einige Experten sprechen deshalb schon von einer „tickenden 
    Zeitbombe“, über die es EU-weit auch zahlreiche neue Studien gibt. 
    Journalisten teilen Sachverhalte mit, von denen sie annehmen, dass das 
    Publikum sie erfahren möchte. Bei diesem Problem kann man vermuten, dass das 
    Publikum es lieber verdrängt, als damit konfrontiert zu werden. Denn gegen 
    die Aufnahme der sich in der Umwelt akkumulierenden Chemikalien, die 
    genetische Schäden und Unfruchtbarkeit hervorrufen, ist im Grunde kein Kraut 
    gewachsen. Wenn ich mich schon nicht vor diesen Stoffen schützen kann, dann 
    verdränge ich deren unvermeidliche Präsenz doch lieber. Im Übrigen dürfte 
    nach der Hochkonjunktur des Themas in den 90er Jahren ein Abstumpfungseffekt 
    eingetreten sein. Wenn das Publikum sich kaum für ein Problem interessiert, 
    dann können auch die Medien ihm keine intensive Beachtung schenken, wenn sie 
    publizistisch und ökonomisch erfolgreich sein wollen. 
     
    Beim fünften Thema lässt sich wieder ein innerprofessioneller 
    Vernach-lässigungsgrund erkennen: 
     
    Städte kippen den Baumschutz 
     
    In vielen Städten und Gemeinden werden übermäßig Bäume gefällt – ersatzlos. 
    Möglich wird das durch die Abschaffung der Baumschutzsatzungen. Trotz der 
    lauten Debatten über Umweltzonen in den Städten und das globale Klima spielt 
    das Thema lokale Abholzung und seine Auswirkungen auch auf das Stadtklima so 
    gut wie keine Rolle in der überregionalen Berichterstattung. 
     
    Dass ist ein Thema, dem journalistische Profis wenig Beachtung schenken, 
    weil es kaum die berühmten Nachrichtenwertkriterien erfüllt. Trotz des 
    Bezugs zum Klima- und CO2-Hype ist der löcherig werdende Baumschutz von 
    einer Alltäglichkeit, die kaum Nachrichtenfaktoren wie Ereignishaftigkeit, 
    Sensation, unmittelbaren Schaden oder Negativismus aufweist. Umgekehrt 
    betrachtet ist jedes Nachrichtenwertkriterium auch eine Ursache dafür, dass 
    Sachverhalte, die dieses Kriterium nicht erfüllen, nur geringe Chancen 
    haben, in die Öffentlichkeit zu gelangen. Da auch der Journalismus gegenüber 
    seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten blind ist, muss er auf dieses Problem von 
    außen hingewiesen werden, beispielsweise von der ihn begleitenden 
    Wissenschaft. 
     
    Fehlender Nachrichtenwert ist auch für das achte Thema bedeutsam: 
     
    Bundestag 
    debattiert erstmals über Entschädigung für deutsche Kolonialverbrechen in 
    Afrika – und keiner berichtet 
    Im Juni 2007 wurde erstmals im Bundestag über eine finanzielle 
    Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen 
    Deutsch-Südwestafrika debattiert. Obwohl diese vielfach als Völkermorde 
    bewertet werden, berichteten lediglich der englische Dienst der Deutschen 
    Welle und die „Junge Welt“ – Nachrichtenagenturen kündigten weder den Termin 
    an, noch lieferten sie Nachberichterstattung. Dadurch war der Debattentermin 
    in den meisten Redaktionen unbekannt. 
     
    Hier fehlt es am Nachrichtenwertfaktor Nähe, und zwar sowohl in zeitlicher 
    als auch in räumlicher Hinsicht. Hinzu kommen psycho-kulturelle Gründe: 
    Eigene Schuld wird gern verdrängt, auch kollektiv, und Geschichtsbewusstsein 
    wie Geschichtswissenschaft werden vom postmodernen Zeitgeist abgehängt.  
     
    Damit sind sicher nicht alle Gründe genannt, die zur Unterbelichtung von 
    Themen in der medialen Öffentlichkeit führen. Vielmehr deutet sich an, dass 
    es eine schwer überschaubare Fülle solcher Gründe gibt. Vernachlässigung von 
    Missständen ist offenbar ein Problem, von dem die Öffentlichkeit unserer 
    Gesellschaft schwerer betroffen ist als oft angenommen. Deshalb gehören 
    Initiativen wie das „Project Censored“ oder die INA zu den 
    strukturnotwendigen Komponenten funktionierender Öffentlichkeit in modernen 
    Gesellschaften.   | 
    
     
    Der Autor 
     
      
     
     
    
    Prof. Dr. 
    Horst Pöttker 
     
    Geschäftsführer der  
    
     Initiative Nachrichtenaufklärung 
     
    Jahrgang 1944, Studium der Sozial- und Geisteswissenschaften in Hamburg, 
    Zürich, Kiel und Basel. 1978 Promotion zum Dr. phil. an der Universität 
    Basel, 1982 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Soziologie an 
    der Universität-Gesamthochschule Siegen. 1992 bis 1995 Gastprofessor für 
    Ethik des journalistischen Handels an der Universität Leipzig. 1995 
    Habilitation für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologie der Kommunikation 
    und der öffentlichen Medien an der Universität-Gesamthochschule Siegen. Seit 
    1996 Universitäts-professor für Journalistik. 
     
     
    
    
      
     
    
    Die Liste 
     
    
    Diese 
    Top-Themen hat die Initiative Nachrichtenaufklärung für 2007 ermittelt: 
     
    1. Absprachen über Terminierungsentgelte im deutschen Handynetz  
     
    Politiker behindern Einrichtung von Ombudsstellen  
     
    3. Qualitätsverluste im Journalismus  
     
    4. Chemikalien gefährden die Fruchtbarkeit – eine „tickende Zeitbombe“  
     
    5. Städte kippen den Baumschutz  
     
    6. Die Schweiz beschließt neue Atomkraftwerke  
     
    7. Fragwürdige Auslandsgeschäfte der WestLB  
     
    8. Bundestag debattiert erstmals über Entschädigung für deutsche 
    Kriegsverbrechen in Afrika – und keiner berichtet  
     
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