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    Snipern, rotzen, rausrotzen.  
     
    Eine Raserei 
    
     
     
    Text: 
    
    
    
    Hendrik Steinkuhl    
    Bild: Photocase.com 
     
    
    
    Ich habe einen 
    Freund, dessen Name zwar etwas zur Sache tut, auf seinen Wunsch hin aber 
    verschwiegen werden soll. Nennen wir meinen Freund Martin.
    Noch aus der Schule hat Martin einen festen, rein männlichen Freundeskreis 
    in sein Studentenleben hinübergerettet. Ich, dessen Jahrgang sich in alle 
    Winde verstreut hat, beneide Martin darum.
    Doch Martin sagt, da gebe es rein gar nichts zu beneiden.
    „Hättest du gerne Freunde, die nur mit Strom spielen können?“  
     
    Sachlich zu sein fällt Martin schwer. Meist ist er von etwas völlig 
    begeistert oder er regt sich furchtbar darüber auf. Im Fall seines alten 
    Freundeskreises überwiegt seit einiger Zeit die Verärgerung – und damit die 
    Polemik.  
     
    „Wann fing das eigentlich an?“, fragte ich Martin neulich.
    „Als sie sich zum ersten Mal im Keller verschanzt haben“, antwortete er.  
     
    „Wie die Autisten haben die hinter ihren Bildschirmen geklemmt und sich 
    angebrüllt: Vorsicht Rammbock, 
    Masterblaster in deinem Rücken! Dreimal habe ich Hallo 
    gesagt. Kein Schwein hat geantwortet.“  
     
    Ich seufzte. Vielleicht, sagte ich, hätten sie ihn einfach nicht bemerkt.
     
    Das sei ja das Problem, sagte Martin.  
     
    Ob seine Freunde ihn vielleicht nicht begrüßt hätten, weil sie wussten, dass 
    er von ihrer Netzwerk-Spielerei nichts halte, fragte ich.   
     
    Martin rollte mit den Augen.  
    „Falsch. Alles falsch. Es ist egal, wer kommt. Jeder wird ignoriert, mit 
    Ausnahme des Pizzamannes.“ 
     
    Ich lächelte.  
     
    „Das ist eigentlich nur mäßig lustig“, meinte er, und sah mich entsprechend 
    ernst an. „Meine Freundin, die wie du für alles Verständnis hat, sagt, meine 
    Kumpels würden eben Computerspiele betreiben wie andere Sport. Wenn ich 
    Fußball spielen würde, meint sie, benähme ich mich ja auch anders als 
    sonst.“ 
     
    „Und da hat sie doch Recht!“, sagte ich.
    „Ja, hat sie“, sagte Martin. „Aber wenn mir meine ‚Freunde’ beim Fußball 
    zusehen, begrüße ich sie immer. Und ich kenne niemanden, der das anders 
    macht.“  
     
    Es ist schwierig, mit Martin zu diskutieren. Er begründet alles gut, hat 
    immer Beispiele und Vergleiche parat und ist sich seiner Sache stets so 
    sicher, dass man – je nach Typ und Tagesform – entweder einknicken oder ihm 
    in allem widersprechen will. Mir war an diesem Tag nach Widerspruch zumute; 
    auch, weil mich aufregte, dass er wieder mal niemanden zu kennen meinte, der 
    es anders machte als er. 
     
    „Früher hast du uns doch immer vorgehalten, wie wenig wir im Gegensatz zu 
    deinen Schulfreunden moderne Technik nutzen würden.“  
     
    „Wir“ waren die anderen Literaturwissenschaftler und ich. „Ständig hast du 
    erzählt, es sei so komfortabel, sich per E-Mail zu verabreden und nicht 
    ständig herumzutelefonieren.“ Martin seufzte. Ich hätte ja Recht, sagte er. 
    Ich hätte ja Recht. Aber ob ich ihm trotzdem den Gefallen tun könnte, einen 
    Moment lang zuzuhören? Ob ich bereit sei, hinzunehmen, dass sich Dinge 
    änderten? Ich schlug ein Bein über das andere und lehnte mich nach hinten, 
    um ihm zu zeigen, dass er loslegen könne. Und er legte los.  
     
    „Snipern, rotzen, rausrotzen“, rief er und zielte mit dem Zeigefinger 
    in die Luft. „Ping, ping, rättättättättättäng, dsick, dsick, wummm!“
     
     
    So säßen seine „Freunde“ im Sommer im Garten, sagten nicht mehr „Jetzt ein 
    Luftgewehr“, sondern probierten mit dem ausgestreckten Arm das gesamte 
    Waffenarsenal von Counter-Strike durch. Jedes Mal wenn er mit ihnen grille, 
    würden fette Tauben und liebeskranke Kater aus dem Kirschbaum gesnipert, 
    plärrende Kinder mitunter von der Schaukel gebombt.  
     
    Ich solle ja nicht 
    sagen, mir seien derartige Kinderspiele lieber als ein tatsächlich 
    abgeknalltes Tier. „Schreibtischtäter“ seien seine „Freunde“, schlimme 
    Schreibtischtäter dem Potenzial nach; lächerlich wie Eunuchen im 
    Straßencafé, die darüber räsonierten, welche der vorübergehenden Frauen sie 
    gleich flachlegen würden.  
     
    Das neue Gift aber, sagte Martin, seien Internetspiele. Einer seiner 
    „Freunde“ sei vor einiger Zeit Zelten gewesen und habe seine kleine 
    Schwester beauftragt, ihn bei „Uga-Agga“ zu vertreten. Irgendwann hätten die 
    Eltern dann die 14-jährige Schwester um drei Uhr nachts dabei erwischt, wie 
    sie Armeen aufstellte und um Rohstoffe feilschte. Inzwischen, habe ihm sein 
    „Freund“ erzählt, spiele seine Schwester selber. Der Freund sei stolz 
    darauf, sagte Martin. Früher hätte man seine Musik an die jüngeren 
    Geschwister weitergegeben, heute die Begeisterung für Rohstoff-Geschacher im 
    Internet.  
     
    Am allerschlimmsten aber sei „Comunio“ – eine Art Fußball-Managerspiel im 
    Netz, das ich nicht kannte.  
     
    „Monothematisch“, rief Martin, der alte Fremdwortjongleur, „alles 
    monothematisiert, Aufstellung-fixiert, jedes Treffen, jedes Essen, in der 
    Disco, beim Fußball, nur dieses Thema, lauter geistige Verirrtheiten, 
    Parallelwelten, Scheinrealitäten, nur noch Soziopathen, aufgequollene 
    bleiche Köpfe voll mit Elektronik-Fußball. Der wirkliche Sport eine reine 
    Schablone, man wünscht dem Lieblingsverein eine Niederlage, weil beim Gegner 
    zwei Leute spielen, die man in seiner Internet-Mannschaft hat, man kennt die 
    Ausdauer-, Team- und Wasweißichnochwerte von jedem Spieler, das ist die 
    fiktive Vermessung der Fußballwelt, die digitale Merkantilisierung eines 
    Volkssports, die letzte Entzauberung des Spiels…“ 
     
    Er schnappte nach Luft.  
    „Gefalle ich dir als agitierter Kommunikationswissenschaft-Professor?“  
    „Riesig“, sagte ich.  
    „Dachte ich mir“, meinte er.  
     
    Er tue sich schwer, nicht in eine Rolle zu fallen, wenn er erst einmal zwei 
    Sätze einer Rolle gesprochen habe. Das brauche er mir nicht zu erklären, 
    sagte ich. Lieber wolle ich wissen, warum das seiner oder der Meinung seiner 
    Rolle nach alles so gekommen sei.  
     
    „Die Eltern“, antwortete er.  
    „Wie immer die Eltern. Was dachtest du?“ 
    Er sah mich schräg an. 
    „Wann habt ihr einen Computer bekommen?“ 
    „Wir haben bis heute keinen“, sagte ich.  
    „Hat dir was gefehlt?“ 
    „Eine Zeit lang ja“, sagte ich. „Aber dann war ich froh, dass wir im 
    Gegensatz zu allen anderen eine Hausbibliothek hatten.“  
    Ich dachte kurz nach.  
    „Du kannst uns aber doch nicht als Maßstab nehmen…“    
    „Tue ich auch nicht“, sagte er.  
     
    Es seien immer die Eltern. Keiner von denen seiner „Freunde“ hätte sich je 
    ernsthaft dafür interessiert, was ihr Sohn am Computer mache.  
    „Augen zu, Selbstbelügen, Selbstbelügenlassen“, sagte 
    er.  
     
    Alle wüssten und hätten immer gewusst, dass ihre Söhne den ganzen Tag vor 
    dem Computer hingen, und alle würden davon ausgehen, dass sie sich bei so 
    viel investierter Zeit auch hervorragend mit dem Gerät auskannten – und sich 
    hervorragend mit dem Computer auszukennen, das komme in Muttis und Vatis 
    Verständnis einer Jobgarantie gleich. Deswegen hätten sie ihre Kinder machen 
    lassen. Trotz Selbstverleugnung, sagte Martin, hätten Mutti und Vati 
    natürlich Indizien für die Unterstellung, ihr Sohn sei ein großer 
    Informatiker. 
     
    „Papa macht einen Power-Point-Kurs und will die Präsentation, die er in 
    einer Woche am Heim-PC gebaut hat, am nächsten Tag mit in die Sparkasse 
    nehmen. Er versucht, die Datei auf Diskette zu ziehen, doch die hat leider 
    zu wenig Speicher. Papa gibt auf und brüllt den Sohn ran. Der Sohn schickt 
    dann die Datei an Papas Mail-Adresse bei der Sparkasse, brennt sie zur 
    Sicherheit auf CD – und als Papa das immer noch ziemlich riskant erscheint, 
    schiebt der Sohn die Präsentation noch auf seinen USB-Stick, den er Papa 
    ausnahmsweise für einen Tag leiht.“ 
     
    Martin sah mich mit hochgezogenen Brauen an. 
    „Ein Zeichen von großem Technikverständnis, meinst du nicht auch?“ 
    Immer diese Ironie, meinte ich, sagte es aber nicht.   
     
    Martin hingegen schlug nervös mit den Fingern auf den Tisch und rief 
    irgendwann „Nein!“ Ich schreckte auf.  
     
    „Nein, nein, nein! Nichts, nichts, nichts! Die können nichts! Und 
    warum? Weil zu faul! Man hat einen Gruppennerd, bei dem lässt man 
    formatieren, bei dem lässt man eine neue Festplatte bestellen, von 
    dem lässt man sich die dann auch einbauen. Und wenn man eine 
    Bewerbung schreibt, schickt man die zu mir und lässt sich zeigen, wie 
    man einen Text in Blocksatz setzt und lässt sich erklären, wie man 
    den Zeilenabstand vergrößert. Wo lassen Sie machen? Wo lassen Sie denken?“ 
     
    Er stand auf und ging.  
    „Ich muss mal alleine sein.“ 
     
    Mir taten seine „Freunde“ leid. Ich hatte das Bedürfnis, sie mal zu treffen 
    und mit ihnen über Martin zu sprechen.   | 
    
    AUSGABE 48 
    DIE GESELLSCHAFT DER SPIELER 
     
     
      
     
    
    
    STARTSEITE 
     
    EDITORIAL VON BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
    
    DIE ZUKUNFT DES SPIELENS 
    ENDLICH MAL 
    RUNTERKOMMEN 
    
    SNIPERN, ROTZEN, RAUSROTZEN 
    
    INNOVATION UNTER DRUCK 
    MEIN LEBEN MIT (UND OHNE) DR. 
    JONES 
    FLUCHT IN DIE TRAUMWELT 
    
    SCHLEICHWERBUNG IN COMPUTERSPIELEN 
    HEIMWEH NACH ZUKUNFT 
    MOBILE GAMING 
    LILA GEGEN GRÜN 
    STEILVORLAGE FÜR DIE FANTASIE 
    DIE FASZINATION DER STEINE 
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