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    Flucht in die Traumwelt 
     
    Wenn Computerspielen zur Sucht wird  
    
     
     
    Text: 
    
    
    
    Christoph König 
    Illustration:
    
    
    
    Kristina Schneider für Neue Gegenwart 
     
    
    
    Fotorealistische 
    Effekte, beeindruckender Sound und virtuelle 
    Landschaften von Quadratkilometern Ausmaß: Sehr zur Freude der ständig wachsenden 
    Computerspieler-Gemeinde haben sich die Spiele der heutigen Generation vom 
    grobpixeligen Vergnügen à la Pong zu fesselnden Parallelwelten gemausert. 
    Das Problem: Offensichtlich ziehen immer mehr vor allem junge Spieler ihre 
    lieb gewonnene virtuelle Heimat der realen Welt vor.  
     
    Im vergangenen Jahr sorgte ein CNN-Bericht für Aufsehen wonach in Peking 
    eine Klinik speziell für Internet- und Computerspielsüchtige eröffnet wurde. 
    Dort betreuen Ärzte junge Leute zwischen 16 und 22 Jahren, für die 
    exzessives Computerspielen und Chatten Ablenkung von den Problemen der 
    realen Welt war. Nach CNN-Angaben brachen viele der Patienten ihre 
    Ausbildung ab, um mehr Zeit am Computer zu verbringen. Noch ist nicht klar, 
    wie viele Menschen unter übermäßigem Spielen und Chatten leiden. Seit gut 20 
    Jahren diskutieren Experten darüber, ob man überhaupt von einer 
    Computerspielsucht sprechen kann, und noch immer gibt es keine 
    aussagekräftigen Zahlen. Je nach Studie schwanken internationale Schätzungen 
    zwischen einem und 20 Prozent betroffener Kinder und Jugendlicher.  | 
    
    AUSGABE 48 
    DIE GESELLSCHAFT DER SPIELER 
     
     
      
     
    
    
    STARTSEITE 
     
    EDITORIAL VON BJÖRN 
    BRÜCKERHOFF 
    
    DIE ZUKUNFT DES SPIELENS 
    ENDLICH MAL 
    RUNTERKOMMEN 
    
    SNIPERN, ROTZEN, RAUSROTZEN 
    INNOVATION UNTER DRUCK 
    MEIN LEBEN MIT (UND OHNE) DR. 
    JONES 
    FLUCHT IN DIE TRAUMWELT 
    
    
    SCHLEICHWERBUNG IN COMPUTERSPIELEN 
    HEIMWEH NACH ZUKUNFT 
    MOBILE GAMING 
    LILA GEGEN GRÜN 
    STEILVORLAGE FÜR DIE FANTASIE 
    DIE FASZINATION DER STEINE 
    SPIELE UND 
    JUGENDMEDIENSCHUTZ 
    FRÜHE ZEICHEN DER GLOBALISIERUNG 
    CYBERSPORT, CHEATS UND VIEL 
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    Spielsucht mit Alkohol oder Cannabis vergleichbar 
     
    Neue Impulse bringt womöglich eine Studie der Berliner Charité vom 
    November 2005. Danach kann exzessives Computerspielen tatsächlich zu einer 
    Sucht werden. Die Wissenschaftler wiesen mit hirnphysiologischen 
    Untersuchungen nach, dass Computerspielsucht auf vergleichbaren Mechanismen 
    beruht wie Alkohol- oder Cannabis-Abhängigkeit. Demnach aktiviert exzessives 
    Computerspielen vermutlich die gleichen Strukturen im Gehirn wie weiche 
    Drogen.
     
     
    In der Studie verglichen die Forscher 15 gesunde Computerspieler mit 15 
    exzessiven Spielern. Als exzessiver Spieler wurde eingestuft, wer mindestens 
    drei der international anerkannten Kriterien für Sucht erfüllte. Dazu zählen 
    Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Interessen, Kontrollverlust und 
    anhaltend exzessives Spielen. Beiden Gruppen wurden Fotos von neutralen 
    Gegenständen, Bier- und Schnapsflaschen sowie ein Standbild aus einem 
    Computerspiel gezeigt. 
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    Weitere Informationen 
     
    Fragen rund um die Computerspielsucht behandelt zum Beispiel dieser Ratgeber, der 
    in Kürze erscheint: 
     
    Grüsser, Sabine M.; Thalemann, Ralf: 
    Computerspielsüchtig? Rat und Hilfe für Eltern.
    Bern 2006. 200 Seiten. Broschiert. ISBN: 3456843259. 
     
    An Eltern richtet sich sie Initiative „Schau hin! Was Deine Kinder machen.“, 
    zu der das Bundesfamilienministerium zusammen mit namhaften Sponsoren 
    aufgerufen hat. Auf der Seite 
     http://www.schau-hin.info geben Hinweise darüber, wie Kinder sinnvoll an den Umgang mit Medien 
    herangeführt werden können.  | 
    
  
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    Dabei untersuchten die Wissenschaftler verschiedene Hirnreaktionen auf die 
    visuellen Reize. Legten die Wissenschaftler den Probanden die Szene aus dem 
    Videospiel vor, fielen der Studie zufolge die Hirnreaktionen der exzessiven 
    Spieler sehr viel stärker aus als beim Anblick neutraler Reize oder bei 
    Alkoholmotiven.  
     
    Wer viel spielt, ist nicht gleich süchtig 
     
    Neben der Untersuchung der Hirnfunktionen haben die Forscher rund 7.000 
    Computerspieler des Spielernetzwerks 
     Krawall.de 
    befragt. Die Studie war nicht repräsentativ und klammerte Nichtspieler aus, 
    gibt aber Hinweise auf das Spielverhalten. Das Ergebnis: Über zehn Prozent 
    der Befragten erfüllten mindestens drei der Suchtkriterien. Ralf Thalemann, 
    Sonderpädagoge und Mitarbeiter der Interdisziplinären Sonderforschungsgruppe 
    Berlin an der Berliner Charité, kennt die Fragen besorgter Eltern aus der 
    Praxis und rät zu Gelassenheit. Es gebe unter Kindern und Jugendlichen zwar 
    nicht wenige Fälle von exzessivem, pathologischen Computerspielen, aber die 
    überwältigende Mehrheit der Spieler entwickle kein problematisches 
    Spielverhalten. Thalemann: „Ich schätze, dass sich wenigstens die Hälfte der 
    anrufenden Mütter keine Sorgen machen muss: Ihre Söhne spielen vielleicht 
    viel, erfüllen aber keine Kriterien der Abhängigkeit.“ Nicht wenige Eltern 
    machten den Fehler, aus der Zeit, die ihre Kinder vor dem Computer 
    verbringen, auf eine mögliche Sucht zu schließen wie Thalemann zu berichten 
    weiß: „Dabei ist – überspitzt gesagt – ein Jugendlicher, der nach der Schule 
    drei Stunden vor dem Computer sitzt, danach eine halbe Stunde Klavier 
    spielt, dann seine Hausaufgaben macht und vor dem Schlafengehen liest, 
    definitiv kein Kandidat für eine Computerspielsucht-Therapie.“ 
     
    Flucht vor dem Alltag wird zum Teufelskreis 
     
    Sorgen sollten sich dagegen Eltern, wenn ein Jugendlicher gelernt hat, 
    seine Alltagsprobleme und die damit verbundenen negativen Gefühle mit 
    Computerspielen zu verdrängen. Dann beginnt ein Teufelskreis: Mit der Flucht 
    in virtuelle Welten lösen sich die Probleme nicht und werden größer. Die 
    Erfüllung der Sucht dagegen aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn und 
    lässt das Spielen immer reizvoller erscheinen. Mit der Zeit kann das zur 
    Folge haben, dass die Betroffenen kaum noch alternative Strategien zur 
    Bewältigung von Problemen sehen. Am Ende wird das Computerspiel selbst zum 
    Stressfaktor, weil der exzessive Spieler Probleme mit Eltern, Schule und 
    Freunden bekommt. Thalemann: „Der Süchtige hat an nichts anderem mehr 
    ‚Spaß’, andere Verpflichtungen oder Vergnügen treten vollkommen in den 
    Hintergrund und der Betroffene muss erst lernen, sich wieder auf andere 
    Weise zu belohnen.“ 
     
    Daten über Risikogruppen gibt es nicht. In der Praxis sieht Thalemann die 
    Entwicklung einer Sucht oft eng verknüpft mit Ängstlichkeit, sozial 
    unsicherem Verhalten und wenigen Freunden. Das Bedürfnis nach Anerkennung 
    und sozialen Kontakten führe diese Kinder und Jugendliche dann häufig zu 
    Online-Multiplayer-Rollenspielen wie zum Beispiel „World of Warcraft“. Dort 
    bekämen sie Zuwendung und Anerkennung ohne schmerzhafte Ablehnungen zu 
    riskieren, wie das bei realen sozialen Kontakten der Fall sein könne. 
     
    Die Verantwortung der Spiele-Industrie 
     
    Auch das Bundesgesundheitsministerium ist auf das Problem aufmerksam 
    geworden – auch wenn das Ministerium den Begriff „Sucht“ vermeidet und 
    darauf hinweist, dass die Welthandelsorganisation exzessives Computerspielen 
    als „psycho-soziale Störung“ einstuft. 
     
    Manuela Schumann von der Geschäftsstelle der Drogenbeauftragten der 
    Bundesregierung im Bundesministerium für Gesundheit sieht vor allem die 
    Entwickler in der Pflicht: „Wie alle Hersteller von Suchtmitteln hat auch 
    die Computerspiele-Industrie eine Verantwortung für ihre Kunden und sollte 
    die Spiele dementsprechend verändern.“ 
     
    Ralf Thalemann von der Berliner Charité spielt selbst gerne Computerspiele 
    und wünscht sich einen Dialog mit den Herstellern: „Prinzipiell mache ich 
    niemandem einen Vorwurf, wenn er Innovation, Abwechslung, Spaß und 
    Herausforderung in ein Computerspiel einbringt und viele Hunderttausend 
    Spieler begeistert und fesselt.“ Zeitintensive Spiele könnten für einen 
    entsprechend veranlagten Jugendlichen ein massives Problem werden. Die Sucht 
    müsse aber immer im Zusammenhang mit der individuellen Lern- und 
    Lebensgeschichte gesehen werden. Thalemann: „Ich möchte daher keinem Genre 
    oder bestimmten Spiel das Prädikat ‚suchterzeugend’ aufdrücken. Das macht 
    die Spiele-Industrie witzigerweise zu Werbezwecken selbst.“  
     
    Die Hersteller hüllen sich jedoch in Schweigen. Der Bundesverband 
    Interaktive Unterhaltungssoftware und der Bundesverband der Entwickler von 
    Computerspielen „G.A.M.E.“  haben auf Anfragen der Neuen Gegenwart bislang 
    nicht reagiert.   | 
    
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